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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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beginnen, dem Quinternio der Großen Fragen. Es fällt mir nicht leicht, davon zu sprechen, denn für jeden Außenstehenden muss es lächerlich, gar kindisch klingen. Aber Sie und ich, wir haben einiges zusammen erlebt, und vielleicht können Sie am ehesten verstehen, um was es hier geht. Der Quinternio ist ein Zusammenschluss von fünf Personen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Geschick unseres Landes in eine glücklichere Richtung zu weisen.«
    »Was ihn kaum von Dutzenden anderer größenwahnsinniger Geheimbünde unterscheidet, wie es sie in jeder Stadt gibt, deren Wirtshäuser Hinterzimmer vermieten«, bemerkte Jakob. Seine Respektlosigkeit war beabsichtigt, doch ein Blick in des Dichters Augen reichte aus, um zu sehen, dass Jakobs Spitze fehlging. Es gehörte mehr dazu, einen Mann wie Goethe aus der Fassung zu bringen. Und was hätte ihn stärker treffen können als der Tod des kleinen Prinzen?
    »Es gibt einen Unterschied«, widersprach Goethe sanft. »Die fünf Mitglieder des Quinternio besitzen den Einfluss und die Mittel, einen Teil ihrer Ziele durchzusetzen.«
    »Wer sind die anderen vier?«, fragte ich.
    »Haben Sie bitte Verständnis, wenn ich darüber schweige. Nach Ihrem Auftritt im Park sollten sie längst über alle Berge sein.«
    Ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber dieser ganze Mystizismus um den Begriff des Quinternio, die Sache mit den fünf Großen Fragen, die Andeutungen Hadrians und der alten Märchenfrau – was soll das alles? Weshalb bleibt der Quinternio nicht im Geheimen? Warum drängt es ihn – oder Sie – so sehr an die Öffentlichkeit?«
    »Ich gestehe, all das war meine Idee.« Er lächelte, während er das sagte, aber es wirkte unehrlich, als sei ihm insgeheim ganz anders zu Mute. »Wir, Sie und ich, meine Herren, wir haben einst die Macht der Rosenkreuzer erlebt. Auch sie umgeben sich mit dem Anschein des Mystischen, mit aufgeblasener Alchimie, mit einem Hauch von Magie und Okkultismus. Und wir drei wissen nur zu gut, dass all das nur Staffage ist.«
    »Sie waren ein Gegner der Rosenkreuzer«, warf Jakob ein. »Jetzt klingen Sie wie ihr Fürsprecher.«
    »Oh, nein, um Himmels willen!«, wehrte sich der Dichter.
    »Ich habe lediglich erkannt, welche Vorzüge eine solche Maskerade haben kann. Im Jahr nach unserer ersten Begegnung, 1806, errang Napoleon seinen grässlichen Sieg bei Jena und Auerstedt, nur wenige Meilen von hier. Ich habe das Schlachtfeld gesehen, die Tausenden und Abertausenden Leichen, die Verwundeten. Die ganze Stadt wurde seinerzeit zu einem einzigen Feldlazarett – nicht für unsere Soldaten, sondern für die des Siegers, für Napoleon und die seinen. Begreifen Sie, all das geschah gleich vor meiner Haustür!«
    »Zwei Jahre darauf haben Sie Napoleon persönlich getroffen. Man sagt, Sie hätten sich gut verstanden.«
    Goethe entfuhr ein schmerzlicher Seufzer. »Bonaparte ist ein überaus kluger Mann. Er versteht es, andere für sich einzunehmen. Ich gebe zu, dass ich nicht abgeneigt bin, ihn als Person, als Menschen zu mögen – als Feldherrn aber verabscheue ich ihn und sein Wirken zutiefst.«
    »Weiß er das?«
    »Natürlich nicht.«
    »Zurück zum Quinternio – und dem ermordeten Kind«, forderte Jakob.
    Der Dichter neigte das Haupt, ohne Jakob zu beachten. Er sah Jade an und lächelte zaghaft. »Haben Sie noch ein wenig Geduld, meine Liebe, dann komme ich auch zu jener Angelegenheit, auf die Sie sicher bereits warten.«
    Die Prinzessin nickte nur und sagte kein Wort.
    »Wo war ich stehen geblieben? Ah, ja«, sagte er und hob den Zeigefinger wie ein Schulmeister, »beim Anschein des Mystischen, mit dem wir den Quinternio umgaben. Die vier anderen und ich, wir taten uns zusammen, um Napoleons Einfluss auf unser Land zu mindern oder gar zu zerschlagen. Fünf alte Männer und Frauen, die Befreier spielen, so könnte man es sicherlich sehen. Ich würde es so sehen, an der Stelle eines jeden anderen. Um aber genau das zu vermeiden und dem Quinternio in den Augen des gemeinen Volkes Gewicht zu verleihen, spannen wir einen Mythos nach dem Vorbild altgriechischer, spartanischer und thebanischer Geheimbünde. Wenn Sie ahnten, wie abergläubisch selbst die höchsten Beamten bei Hofe sind, Herrgott, Sie würden auf der Stelle ins Exil gehen! Wir begannen damit, dass wir einer ganzen Reihe von Kartenleserinnen, Wahrsagern und angeblichen Seherinnen den Floh vom allmächtigen Quinternio ins Ohr setzen ließen. Wie nannten Sie es eben, Herr Grimm? Die

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