Die Winterprinzessin
fünf Spitzen des großen Pentagramms, genau. Ein wenig Firlefanz aus alten Zauberbüchern, dazu ein wenig Kabbala, Gnosis und antiker Götterglaube, und schon war das Bild, das wir im Sinn hatten, abgerundet.« Er lachte hustend in der Erinnerung daran. »Es fiel leicht, das hellseherische Wundervolk von der Legende des Quinternio zu überzeugen, und wir wählten gezielt jene aus, von denen wir wussten, dass sie auch im Dienste von Fürstenhäusern und deren Angehörigen stehen. Tausende von Beamten, Politikern, hoch gestellten Persönlichkeiten, ja sogar Herzöge und Fürsten suchen jedes Jahr diese angeblichen Weisen auf und lassen sich von ihnen ihre Zukunft prophezeien. Und allmählich zog das Märchen vom Quinternio auch in die Hirne jener ein, die unser aller Geschick regieren. Glauben Sie mir, es war spielend einfach. Und es ging schnell. Innerhalb weniger Jahre war der Glaube an die Macht des ominösen Quinternio tief in der Gerüchteküche aller Höfe, Regierungspaläste und Adelshäuser verankert.«
Ich sah ihn mit großen Augen an. »Aber damit stellen Sie sich auf eine Stufe mit den Rosenkreuzern, die Sie doch immer wegen ihres Mystizismus so sehr verachtet haben. Es ist keine sieben Jahre her, da haben Sie und Ihre Illuminatenfreunde die Rosenkreuzer aus genau jenem Grund bekämpft …«
»Und wir waren im Recht«, erwiderte er überzeugt. »Aber nun hat sich alles verändert. Der Korse regiert die Welt, und die blutigen Hügel von Jena und Auerstedt haben mir die Augen geöffnet. Der Zweck, meine Herren, heiligt die Mittel! Wenn das Einzelne durch die Zeit ausgelöscht wird, so geht das Allgemeine doch rein aus ihr hervor. Die Handlungen verschwinden, die Gesinnungen bleiben übrig. Man hört auf, nach den Mitteln zu fragen, und allein die erreichten Zwecke treten vor die Augen des Betrachters.«
»Und der Zweck ist der, Napoleon zu stürzen?«, fragte Jakob ungläubig. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Ich fürchte, hierin sind sich die Mitglieder des Quinternio uneinig. Die vier anderen glauben, das einzig Richtige sei, den Korsen so schnell wie möglich vom Thron zu stoßen. Ein illusorisches Vorhaben, gewiss. Ich habe mir daher einen – nun, ich will es Alleingang nennen – erlaubt.« Wieder holte er tief Luft, bevor er fortfuhr. »Sehen Sie …«
Im selben Augenblick klopfte es an der Zimmertür. Goethe brach widerwillig seine Ausführungen ab und fragte mürrisch, wer da störe.
»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat«, erklang gedämpft Dorotheas Stimme, »aber draußen vorm Haus warten zwei Besucher, die Sie zu sprechen wünschen. Sie sagen, es sei überaus wichtig.«
»Wichtig?«, grollte der Dichter. »Um diese Zeit? Ich wüsste nicht, wer – «
Dorothea öffnete die Tür einen Spaltbreit und streckte den Kopf herein. »Es sind Soldaten«, flüsterte sie unheilschwanger.
Jade sprang auf. Ihr Stuhl kippte polternd nach hinten. Die Wolldecke fiel zu Boden, und ihre blutverkrustete Kleidung kam zum Vorschein. Wilde Kampfeswut glühte in ihren Augen, trotz ihrer Wunden.
»Gemach«, bat Goethe mit einem besänftigenden Wink und erhob sich. Zu Dorothea sagte er: »Haben die Herren ihre Namen genannt?«
»Dalberg und Stiller«, erwiderte die verschüchterte Dienstmagd. »Es ist noch ein dritter Mann dabei, auch ein Soldat, aber er wartet bei den Pferden. Alle drei sehen nicht recht – nun ja, Vertrauen erweckend aus. Ihre Uniformen sind schmutzig und zerrissen, ihre Gesichter dreckig und – «
»Schon gut, schon gut«, beendete Goethe ihren Wortschwall. Falls ihn das Auftauchen des Ministers erschreckt oder auch nur verwundert hatte, so wusste er seine Gefühle gut zu verbergen. Er blieb vollkommen ruhig.
Nicht so Jakob und ich. Von Jade ganz zu schweigen.
Die Prinzessin eilte an Goethe vorbei zum Fenster und blickte prüfend hinaus, als erwäge sie allen Ernstes, in den Garten hinunterzuspringen. Mein Bruder und ich, wir starrten uns Hilfe suchend an. Keiner von uns wusste, wie mit der neuen Lage zu verfahren war.
Wir hatten Goethe in aller Kürze von unserer Reise an Dalbergs Seite berichtet, ebenso von den Priestern Catays, dem Kampf im Wald und unserer Flucht mit Jade. Dabei hatten wir angedeutet, dass es durchaus möglich wäre, dass der Minister und seine Soldaten getötet worden waren. Wenn Dalberg, Stiller und ein dritter Mann nun in Weimar auftauchten, so bedeutete dies, dass sie unserer Spur bis hierher gefolgt waren. Wahrscheinlich hatte ihnen der Nachtwächter verraten,
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