Die Winterprinzessin
Wann.«
»Bitte, Jakob!«, drängte ich ihn. »Das ist doch sinnlos. Sie ist alt und – «
»Ich mag alt sein, mein Junge«, fiel mir die Frau ins Wort, »aber es ist nicht mein Alter, das zählt. Seid ihr nicht gekommen, um von meinem Wissen zu kosten? Ihr habt sogar dafür bezahlt.«
Jakob schenkte mir einen giftigen Blick. »Das stimmt«, zischte er.
»Wir gehen!«, beharrte ich.
»Noch nicht.«
Einen Moment lang starrten wir einander an, beide voller Zorn.
Die Alte kicherte. »Nun streiten sie, die Kinder. Denn Kinder, das seid ihr.«
Ich hätte eine passende Antwort auf ihre Unverschämtheit gewusst, zügelte jedoch meine Wut. Es gab wahrlich Wichtigeres, als einen Streit mit ihr zu beginnen. Vielleicht ahnte ich auch im Innersten, dass ich ihr unterlegen war.
Stattdessen richtete ich nun all meinen Ärger auf Jakob. »Wenn du nicht mitkommst, gehe ich ohne dich.«
»Du bist alt genug, um den Weg allein zu finden.«
»Ist das dein Ernst?«
Das keckernde Lachen der Alten wurde lauter, brach dann mit einem Mal ab. »Hört schon auf. Habt ihr denn nicht zugehört? Habt ihr nichts aus meiner Geschichte gelernt?«
Beschämt sahen wir uns an und rangen nach Worten. Natürlich hatte sie Recht, ganz gleich, wie verrückt sie war.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe genug geredet. Das Sprechen strengt mich an.« Sie sagte das ohne Müdigkeit, geschweige denn Erschöpfung.
Jakob wollte widersprechen, doch die Alte blieb eisern. »Geht jetzt«, bat sie. »Die Antworten werden euch auch ohne mich finden.«
Wir verabschiedeten uns steif und verließen sie. Draußen auf dem Hof bemerkte ich, dass man uns durch mehrere der umliegenden Fenster beobachtete, daher wartete ich, bis wir die Straße erreichten. Ich wollte das Wort ergreifen, doch Jakob kam mir zuvor.
»Warum, in Gottes Namen, hast du sie nicht aussprechen lassen?«, fragte er barsch.
»Du hättest dich sehen sollen! Deine Augen, Jakob. Ich kenne diesen Blick, und er hat uns bisher nichts als Schwierigkeiten eingebracht.«
»Wir sind zu ihr gegangen, um zuzuhören.«
»Wir sammeln Märchen, kein Kräutergartengeschwafel.«
»Ach ja? Vielleicht mangelt es dir nur an Wagemut?«
Entrüstet blieb ich stehen. »Erinnere dich, wohin uns dein Wagemut das letzte Mal geführt hat.«
»Wer wollte denn in die Kutsche dieser Prinzessin steigen?«, fragte er aufgebracht. »Du oder ich?«
»Es war ein Märchen, nichts sonst. Wir sind heil in Karlsruhe angekommen, oder?« Fast hätte ich ihn nach dem Blumenkranz gefragt, doch die Vernunft gebot mir, darüber zu schweigen. Es war nicht nötig, unseren Disput um einen weiteren Streitpunkt zu bereichern.
Er schüttelte resigniert den Kopf und ging weiter. Ich folgte ihm.
»Du hast das Ende der Geschichte nicht mitgeschrieben«, bemerkte ich leise.
»Ich hab’s im Kopf.«
»Mir geht’s genauso.«
Wir erreichten den Rand des verwinkelten Viertels und betraten eine der schnurgeraden Hauptstraßen. Jakobs Blick war starr geradeaus gerichtet.
»Hast du je von diesen Großen Fragen gehört?«, fragte er nachdenklich.
»Die Säulen jeder Verständigung und Sprache.«
»Sie hat das anders gemeint.«
»Dann erklär mir, wie sie es gemeint hat.«
»Das könnte ich, wenn du sie nicht unterbrochen hättest.«
Ich seufzte. »Fünf Fragen, die die Menschheit regieren … Das ist lächerlich. Sie ist alt, alte Leute machen sich seltsame Gedanken. Sie suchen nach Begründungen für ihr Scheitern.«
»Fünf Fragen und fünf Teufel, hat sie gesagt. Die fünf Spitzen des Pentagramms.«
»Gesetzt den Fall, ihre Worte hätten Hand und Fuß, woher weiß sie dann so viel darüber?«
»Diese Frage hättest du ihr stellen sollen, nicht mir.«
»Sie war müde«, widersprach ich schwach, wohl wissend, dass er es wieder einmal geschafft hatte: Ich verteidigte mich. Jakob war ein Meister darin, anderen die Schuld zuzuweisen. Das mochte daran liegen, dass er redete, wie ein Schachspieler spielte: Er plante jeden Zug im Voraus, war in Gedanken meist zwei Schritte weiter. Er war in der Lage, einen Disput zu beenden, ohne ein einziges Argument vorzubringen. Sein Gegner, und das galt ganz besonders für mich, erstickte an den eigenen Antworten.
Es schneite wieder, heftiger noch als am Vortag, und es war kälter geworden. Meine Ohren taten weh, jeder Atemzug schmerzte in der Kehle.
Ein dunkler Umriss brach durch den wirbelnden Schnee. Finster schob er sich uns entgegen. Bei diesem Wetter waren kaum Kutschen unterwegs, diese
Weitere Kostenlose Bücher