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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war die einzige weit und breit. Ihre Räder schnitten tiefe Kerben ins Eis.
    Ich wusste, was Jakob dachte. Mir erging es genauso. Die Prinzessin aus dem Märchen. Der Untergang der beiden Brüder.
    In der Rückschau mag es töricht erscheinen, und doch kann ich nicht umhin, davon zu berichten. Was wir taten, taten wir aus der Furcht, die das Geschwätz der Alten in uns hervorgerufen hatte.
    Wir sahen uns an, zögernd noch – dann rannten wir los. Rannten vor der Kutsche davon.
    Die Pferde hatten Mühe im hohen Schnee, die Räder drohten stecken zu bleiben. Trotzdem nahm der Kutscher die Verfolgung auf. Von ihm war nicht mehr als eine vage Silhouette zu erkennen. Eine Gestalt in weitem Mantel, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Ich musste Kalas Gesicht nicht sehen, um den Fakir zu erkennen.
    Trotz der langen Stunden am Schreibpult hatten Jakob und ich uns Schnelligkeit und Gewandtheit bewahrt – beides war im Schnee von geringem Nutzen. Wir mochten uns noch so anstrengen, das widrige Wetter erschwerte unser Entkommen. Der gerade Weg zum Schloss war durch die Kutsche abgeschnitten, so blieb uns nur, in eine Seitenstraße zu fliehen. Dort waren die Schneemassen locker und tief, mit jedem Schritt versank ich bis zur Wade.
    Ich weiß nicht, wie es dem Fakir gelang, die Kutsche in Bewegung zu halten. Noch immer rollte sie hinter uns her, nicht langsamer als wir selbst, wiewohl auch nicht schneller. Die Rösser schnaubten und zerrten, und jedes Mal wenn ich glaubte, die Räder seien endlich festgefahren, belehrte mich das Trampeln und Knirschen in meinem Rücken eines Besseren. Die Kutsche musste noch etwa zwanzig Schritte hinter uns sein. Ich erwog, an einer der Türen um Schutz zu bitten, doch in der Zeit, die es gebraucht hätte, uns einzulassen, hätte die Kutsche uns längst erreicht. Kein einziges Mal kam mir der Gedanke, Kala habe gar nichts Übles im Sinn; zu tief saß die Prophezeiung der Alten – so es denn überhaupt eine war.
    Obgleich ich eben erst beharrlich gegen ihre Worte gewettert hatte, trieb mich nun die blanke Furcht. Und mit jedem Schritt, jedem Schnauben der Pferde, jedem Klatschen der Peitsche vervielfachte sich meine Angst.
    Eine weitere Kreuzung. Wir bogen nach rechts. Nicht ein Mensch auf den Straßen. Laufen! Nur Laufen! Die Kehle trocken, zu Eis erstarrt. Die Augen verklebt vom Schnee. Der Atem auf den Lippen gefroren.
    Dann – das Schloss.
    Die Gärten, die verschneiten Hecken. Vor uns die Wachen.
    In Sicherheit.
    Ich sah mich um, blickte noch einmal ins wirbelnde Weiß. Die Kutsche war verschwunden.
    Wir eilten an den erstarrten Wachposten vorüber ins Gästehaus.
    In Decken gehüllt saßen wir schließlich da, immer noch zitternd, nicht allein wegen der Kälte. Durchs Fenster drang das zermürbende Kreischen des Scherenschleifers.
    »Warum sind wir fortgelaufen?« Ich schämte mich, ohne zu wissen, wofür. Vielleicht für meine Angst, vielleicht auch für meine Inkonsequenz. Die Saat der Märchenfrau gedieh auch in mir, mochte ich mich noch so sehr gegen die Wahrheit sträuben.
    »Du weißt es, und ich weiß es«, erwiderte Jakob bedrückt und starrte hinaus in den Schneesturm. Es mochte kaum drei Uhr sein, und doch verging die Welt im Zwielicht. Allein das Schleifgeräusch übertönte den Aufruhr der Natur.
    »Sie waren gut zu uns. Kala hat den Brief gerettet, und Jade …« Ich verstummte. Sinnlos, Dinge auszusprechen, die wir beide längst wussten. Es beruhigte nicht einmal mich selbst.
    »Gefällt sie dir?«, fragte Jakob. »Ich meine, sehr«
    »Wir kennen sie doch nicht einmal.«
    »Sprich nicht in der Mehrzahl. Ich habe dich gefragt, nicht mich selbst. Könntest du dir vorstellen, sie zu …«
    »Heiraten?«
    »Ich weiß nicht. Küssen, vielleicht.« Himmel, was waren wir naiv.
    Ich sah Jakob entgeistert an. »Du hattest denselben Traum, nicht wahr? Von Jade und dem Blumenkranz.«
    Zu meinem Erstaunen verging kaum ein Augenblick, da nickte er. »Du also auch.«
    »Hast du … ich meine, hast du die Blumen in deiner Tasche gefunden?«
    Zuckte er zusammen? Was ging in ihm vor? Er hatte doch nicht annehmen können, er sei der Einzige. Nicht wirklich.
    Und was war mit mir? Hatte ich es nicht ebenfalls gehofft? Hatte nicht auch ich mich der Illusion hingegeben, ihr Herz könne mir allein gehören?
    Und was sprach eigentlich dagegen? Nur das Märchen eines alten Weibes. Ihr Neid auf die Freuden des Jungseins. Der Hass auf ihre eigene Einsamkeit. Tatsächlich? Herrgott, was geschah mit

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