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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schüttelte energisch den Kopf. »Keineswegs. Wollte der Minister uns nicht in alles einweihen? Und hat er uns nicht selbst bereits einen Teil offenbart? Das scheint mir doch dafür zu sprechen, dass er uns früher oder später ins Vertrauen ziehen wird. Ich will die Sache nur ein wenig beschleunigen.«
    Ich schöpfte neue Hoffnung. »Dann reist du nicht ab, ehe alles entschieden ist?«
    Jakob lächelte. »Wohl kaum, kleiner Bruder. Wohl kaum.«
     

4
    D er Schneesturm hatte seine Gewalt inzwischen noch gesteigert und trieb selbst den Wagemutigsten zurück in die Wärme des Schlosses. Die Diener hatten die Türen zum Park verriegelt, und es kostete einiges Redegeschick, einen von ihnen zu überzeugen, uns ins Freie zu lassen. Ungläubig starrte er uns hinterher, als wir uns dick vermummt gegen das peitschende Schneetreiben stemmten. Die Sicht reichte nicht weiter als fünf Schritte, alles, was dahinter lag, verschmolz mit dem wirbelnden Weiß. Es gelang mir kaum, die Augen aufzuhalten, und jedes gesprochene Wort war zwecklos, der Sturm riss es ungehört von den Lippen.
    Doktor Hadrian, so hatten wir in Erfahrung gebracht, genoss ein besonderes Privileg: Sein Haus lag im Nordosten des Schlossparks, am Rande jenes Wegezirkels, von dem die alte Frau gesprochen hatte, unweit der Obstgärten und der Fasanerie des Großherzogs. Die weiten Wiesen, die ans Schloss grenzten und weithin sichtbar von der achteckigen Säule des Bleiturms überragt wurden, gingen nach hundert Schritten ins Dickicht kahler Bäume über. Die Gärtner hatten einen Teil des Waldes, der sich jenseits der Anlage erstreckte, ins Rund des Schlossparks einbezogen und mit einem Netz von Wegen durchrodet. Einem von ihnen folgten wir, in der ungewissen Hoffnung, den richtigen gewählt zu haben.
    Kurz darauf standen wir vor dem Haus des berühmten Arztes. Es überschaute eine kleine Lichtung, war zweigeschossig und von einem Ring mächtiger Eiben umwachsen. Merkwürdig, dachte ich: Weshalb umgab sich ein Doktor, der berühmt war für die hohe Zahl seiner geglückten Entbindungen, ausgerechnet mit jenen Bäumen, deren Früchte in der Volksmedizin zur Abtreibung dienten?
    Hinter keinem der Sprossenfenster an der Vorderseite des Hauses brannte Licht. Gut möglich, dass das Arbeitszimmer des Doktors nach hinten auf die Wälder hinausging. Man hatte uns erklärt, dass Hadrian das Anwesen allein bewohnte. Sein einziges Dienstmädchen war guter Hoffnung und sollte bald ihr erstes Kind gebären. Der Doktor hatte auf Ersatz verzichtet; nur einmal am Tag kamen Diener vom Schloss herüber, brachten Speisen, putzten und nahmen die wenigen Wünsche des Hausherrn entgegen. Alles in allem sprach man von ihm, als sei er ein rechter Kauz.
    Unser Pochen blieb lange ohne Antwort. Endlich, nach Minuten erbärmlichen Frierens und sinkender Zuversicht, flackerte hinter einem Fenster ein Licht auf. Die Haustür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und über einer Kerzenflamme blickte uns das Gesicht eines Mannes entgegen. Die Augen des Doktors weiteten sich überrascht, dann beinahe ängstlich.
    »Wer sind Sie?«, fragte er zaghaft.
    Wir stellten uns vor und baten höflichst um Einlass. Er gewährte uns die Bitte, wenngleich es ihm offensichtlich widerstrebte. Wir traten in eine Eingangshalle, die nur vom Kandelaber in des Doktors Hand erhellt wurde. Der Schein der Kerzen zuckte über dunkelroten Brokat, der einen Großteil der Wände verhüllte. Über einer Treppe, die hinauf in den oberen Stock führte, hingen zahllose Tiergeweihe; ihre verästelten Schatten reichten bis hinauf zur Decke, verzerrten und verschoben sich mit jeder Bewegung, die der Doktor machte.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er und blickte schon wieder zur Tür, die Jakob gerade erst hinter uns geschlossen hatte.
    »Wir werden Sie nicht lange belästigen, werter Herr«, versicherte Jakob. »Wir hofften nur, Sie könnten uns mit einer Auskunft weiterhelfen.«
    »Einer Auskunft?«, fragte er und verzog eine Augenbraue.
    Das Erste, was an Hadrian auffiel, war seine ungemein lange und spitze Nase, die vom tiefen Lichteinfall noch betont wurde. Sein Mund dagegen war schmal, nur eine Falte unter anderen, die sein Gesicht bedeckten. Ich schätzte ihn auf fünfzig, vielleicht fünfundfünfzig Jahre. Er trug einen Frack, der nur noch zum Hausgebrauch taugte, denn er war abgetragen und längst aus der Mode. Von einem Mann in seiner Position, den die Reichen und Edlen im ganzen Reich zur Geburt ihres Nachwuchses

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