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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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den Schatten der Decke. Sie zitterte, als sei eben erst jemand dagegengestoßen. Vorsichtig umfasste ich sie mit meiner Rechten. Zog daran.
    Wie auf ein stummes Kommando rauschten überall in der Eingangshalle die Brokatvorhänge zur Seite. Die Wände dahinter glichen jenen des Zimmers, in das uns der Doktor geführt hatte: Sie waren über und über mit Schmetterlingen bedeckt. Große und kleine, bunte und blasse Falter, alle mit ausgebreiteten, ausgedörrten Flügeln. Zehntausende. Ein Schmetterlingsmausoleum.
    »Was tust du?«, zischte Jakob ärgerlich, obgleich auch sein Blick gebannt an der makabren Pracht hing. Ich fragte mich, wo Sammlerleidenschaft endete und der Irrsinn begann.
    Etwas bewegte sich im Schatten unterhalb der Treppe. Eine Gestalt lag am Boden. Mit brüchiger Stimme rief sie um Hilfe.
    Wir sprangen die Stufen hinunter. Es war Hadrian. Er lag da und hielt sich den Schädel.
    »Sie haben mich niedergeschlagen«, keuchte er. »Nanette!«
    »Wo ist sie?«, fragte ich, während Jakob sich zu dem Doktor hinabbeugte. Er blutete nicht.
    »Die Odiyan! Sie haben sie … entführt!«
    »Die wer}«
    Im gleichen Moment ertönte der Schrei einer Frau. Im hinteren Teil des Hauses klapperte eine Tür. Auf und zu, auf und zu. Ich rannte los, ohne Licht. Wer weiß, ob es etwas geändert hätte. Jakob rief mir hinterher, doch da schrie die Frau ein zweites Mal. Ich bog um eine Ecke, hetzte einen stockdunklen Korridor hinunter, an dessen Ende durch eine Tür rötliches Zwielicht fiel. Ich erreichte sie, ohne nachzudenken, und blickte in eine verlassene Küche. Eisige Kälte blies mir entgegen. Eine Hintertür wurde vom Wind auf und zu geschlagen. Schnee wehte herein. Das Licht rührte von einer Fackel, die draußen durchs Dunkel tanzte. Jemand rannte durch den Schnee.
    Ich riss die Tür zur Gänze auf und stürzte hinaus. Meine Beine versanken bis zu den Knien im Schnee. Weiter vorne, jenseits der Eiben erkannte ich die Umrisse mehrerer Gestalten. Pferde schnaubten und wieherten. Einer trug über der Schulter ein lebloses Bündel. Das Dienstmädchen!
    Ich zögerte noch. Meine Vernunft gebot mir, innezuhalten. Was musste ich mich hier mit einer Überzahl von Gegnern anlegen? Gegnern, über die ich nichts wusste, außer, dass sie nicht davor zurückschreckten, eine Schwangere zu verschleppen.
    Der Schnee vor mir färbte sich schwarz. Etwas Riesiges verdeckte meine Sicht. Ein Mensch in dunkler Kleidung. Aber seine Schultern, sein Kopf … Eine gewaltige Deformation, kein Hals, etwas wie ein Buckel. Wo war der Kopf? Dann – Licht. Nur ein Schimmer. Genug, um zu sehen. Zu erkennen.
    Es war ein Vogel. Ein Mensch mit einem Vogelschädel, von den Schultern an aufwärts. Eine monströse Eule. Schwarze, glitzernde Augen, ein kurzer, gebogener Schnabel, schmutzig weiße Federn.
    Ein Schrei. Vielleicht mein eigener.
    Ein Hieb. Schmerzen.
    Und dann nur die Dunkelheit der Eulenaugen, die mich tief in ihre Schwärze sogen.
     

5
    I ch schwamm inmitten der Augen, auch dann noch, als ich annahm, ich sei wach. Es gab keinen Übergang aus der Bewusstlosigkeit zurück ins Diesseits, keinen, den ich bemerkte. Ich konnte nichts sehen. Alles, was ich spürte, war Furcht. Um mich war tiefe, war absolute Finsternis. Ich lag mit dem Rücken am Boden, Arme und Beine gespreizt, Hand – und Fußgelenke durch Eisenringe auf kalten Stein geschmiedet. Um meine Hüfte lag ein Stahlband. Es war mir unmöglich, mich zu bewegen, zu fest saßen die Fesseln.
    Wenn ich die Finger streckte, ganz zaghaft, stießen ihre Spitzen an Wände. Ich streckte meine Füße, bis mir die Eisenringe ins Fleisch schnitten; auch die Zehen trafen auf Widerstand. Mein Kerker war demnach winzig klein, ich füllte seine ganze Fläche aus. Damit ging die Erkenntnis einher, dass ich wirklich erwacht war. Ich schwebte nicht mehr im Nichts wie zuvor. Nur die Schwärze war geblieben. Die Schwärze und die Todesangst.
    Ich hatte Visionen von einem Käfig. Ich saß darin, hilflos, während mich durch die Gitter Eulenaugen anstarrten. Ich, der Mensch, saß im Käfig, und die Vögel waren draußen.
    Das Bild verflog, und die Finsternis kehrte zurück. Ich hoffte, meine Augen würden sich daran gewöhnen, doch selbst nach einer Ewigkeit bemerkte ich keinerlei Besserung. Mir war, als läge ich am tiefsten Meeresgrund, jenseits allen Lichts.
    Vielleicht war ich blind! Der Gedanke traf mich wie ein Säbelhieb, ein scharfer, böser Schmerz. Hatte man mir das Augenlicht genommen? Mich

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