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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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meinem Bruder, sich aus eigener Kraft zu befreien«, erklärte er und stieß mich dabei unterm Tisch mit dem Fuß an. Offenbar wollte er jede Erwähnung der Prinzessin vermeiden. Ich ließ ihm seinen Willen.
    Der Minister war bleich geworden. »Das ist grauenvoll«, sagte er mit hohler Stimme. Sorge und Scham nagten an seinem Herzen. »Ich bin untröstlich. Natürlich war es richtig, dass Sie mich sofort in Kenntnis setzten. Herrgott, entführt!«
    Freilich dachte ich mir, dass ihm weniger an mir und meinem Wohlergehen lag als an seiner Freundschaft zu Goethe, die ihm durch solcherlei Vorfälle gefährdet schien.
    »Ich will ehrlich mit Ihnen sein«, fuhr er fort. »Ich weiß von diesen Männern mit den Tiermasken. Sie treiben sich bereits seit Tagen in den Wäldern herum.«
    Ich starrte ihn ungläubig an. »Und Sie haben nichts gegen sie unternommen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Was glauben Sie, meine Herren, wie viele Räuberbanden uns in den vergangenen Wochen gemeldet wurden? Dutzende! Seit der Niederlage in Russland sind Tausende Soldaten und Söldner auf dem Weg in ihre Heimat, nach Frankreich und Spanien, und sie alle ziehen auf ihrem Weg durch unser Land. Viele von ihnen haben sich zusammengerottet und holen sich nun hier und anderswo die Beute, die ihnen in Russlands Winter verwehrt blieb. Hinzu kommen Hunderte junger Männer, die aus Furcht vor der Rekrutierung schon zu Beginn des Feldzuges aus ihren Dörfern und Städten flohen. Die Aushebungen des Kaisers haben sie zu Geächteten gemacht, es sind Männer, deren einzige Möglichkeit zu überleben das Verbrechen geworden ist. Sie alle durchstreifen das Reich, und viele schrecken vor keiner Scheußlichkeit zurück. Die Wälder sind voll von ihnen.« Dalbergs gequälter Gesichtsausdruck wurde eine Spur finsterer. »Es ist unmöglich, sie alle auf einmal zu verfolgen und zur Strecke zu bringen. Daher glauben Sie mir, wenn ich Ihnen unsere Bedrängnis versichere. Die wenigen Soldaten, die uns der Kaiser gelassen hat, sind rund um die Uhr auf den Beinen, um Schloss und Stadt zu beschützen. Liebend gerne würde der Großherzog seine Armee in die Wälder entsenden, um dem Pack, das dort haust, den Garaus zu machen – die Schwierigkeit ist, dass es keine Armee mehr gibt.«
    Ich erinnerte mich an das Bild der geschlagenen Heimkehrer, die wir bei unserer Ankunft in Karlsruhe angetroffen hatten. Es gab keinen Zweifel, dass Dalberg die Wahrheit sagte.
    Jakob war weniger verständnisvoll. »Was gedenken Sie zu tun?«, fragte er barsch.
    Dalberg zuckte mit den Schultern. »Ich muss Ihnen meine Hilflosigkeit gestehen. Alles, was ich tun kann, ist, Ihr Malheur dem Großherzog zu melden. Es liegt an ihm, die nötigen Schritte abzuwägen.«
    Verfluchtes Beamtentum! Die nötigen Schritte abzuwägen – ich fragte mich, was es da zu erwägen gab. Allerdings sah ich auch ein, dass jedes weitere Wort verschwendet war. Mit einem Ruck erhob ich mich. Mein Entschluss stand fest: Ich würde die Stadt verlassen. Kein Posten der Welt würde mich in diesem schändlichen Filz halten können. Über diese Entscheidung vergaß ich sogar die drei Tätowierten, und so war es Jakob, der im Aufstehen erneut die Sprache auf sie brachte.
    »Gestatten Sie die Frage, Herr Minister, aber was suchen die drei Männer aus dem Thronsaal hier im Schloss? Noch dazu beim Großherzog persönlich.«
    Dalberg zuckte mit den Achseln. »Sie wissen, wie Mönche sind: Wo Seelen an niedrigen Zweigen hängen, ist der Klerus schnell mit seinen Netzen zur Stelle. Offenbar machten diese Männer sich Hoffnung, die christliche Erziehung des jungen Thronfolgers zu übernehmen. Wie es scheint, unternahmen sie nur deshalb die weite Reise von Indien hierher.«
    »Sie wollen uns doch nicht weismachen, dass Sie ein Wort davon glauben.«
    »In Ermangelung besserer Erklärungen muss ich es. Dieses Kind ist kein Kind wie jedes andere. Es ist Napoleons Enkel, einer der wenigen legitimen Anwärter auf den Thron des Kaisers. Es geht hier nicht allein um das beschauliche Baden. Wenn der Kaiser je seine Pläne verwirklichen sollte, dann steht die Herrschaft über ein Weltreich zur Diskussion. Um darauf Einfluss zu nehmen, ist der Weg von Indien bis hierher wohl kaum zu weit, nicht wahr?«
    Natürlich, dachte ich, das war es! Jetzt endlich begriff ich: Der Sohn des Großherzogs war nicht allein der Erbe Badens – er war potenzieller Herrscher über ganz Europa und jedes weitere Land, das seinem Großvater in Zukunft zufallen

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