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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Prinzessin geschehen ist. Du kannst dich ja an sie wenden, oder, schlimmstenfalls, nach Kassel zurückkehren und dich in deinen warmen Bibliothekssessel setzen. Aber ich? Ich bin auf diese Stellung angewiesen, verdammt nochmal!«
    Jakob hob gleichfalls die Stimme. »Ich weiß nicht, was du da von der Prinzessin faselst, Wilhelm. Und es ist mir auch gleichgültig. Aber eines solltest du mittlerweile doch bemerkt haben: Diese Stellung, auf die du wartest, die gibt es nicht mehr! Falls es sie überhaupt je gegeben hat!«
    Wir starrten uns streitlustig in die Augen, keiner bereit, auch nur einen Fußbreit nachzugeben.
    Schließlich aber rief ich mich zur Ruhe. Ich atmete durch, drehte mich um und ging weiter. Jakob folgte mir.
    »Du glaubst, das Kind ist tatsächlich tot?«, fragte ich ruhiger.
    »Nein, natürlich nicht«, entgegnete er, gleichfalls ein wenig sanftmütiger. »Der Sohn des Großherzogs lebt, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Aber glaubst du im Ernst, bei allem, was um uns herum vorgeht, wird irgendwer noch das Risiko eingehen, dich oder irgendeinen anderen Fremden in diese Angelegenheit hineinzuziehen?«
    »Das ist längst geschehen«, widersprach ich. »Und nicht nur mich – du steckst doch ebenfalls mit in der Sache. Meinst du, Dalberg hält uns deshalb so lange hin?«
    Er nickte. »Ganz bestimmt sogar. Vorgestern noch wollte er dir den Posten unbedingt geben. Seitdem aber lässt er sich laufend verleugnen. Ich bin überzeugt, er hat das Schloss seither nicht ein einziges Mal verlassen. Irgendetwas ist in diesen beiden Tagen geschehen, etwas, das ihn an seinem Angebot zweifeln lässt. Er weiß nicht, was er tun soll. Und ich bin überzeugt, wenn er noch länger darüber nachdenkt, wird er zu dem Schluss kommen, dass es am besten ist, dich wieder nach Hause zu schicken.«
    Dem konnte ich schwerlich widersprechen. Vielleicht war es besser so. Ein Leben an der Seite dieses Kindes, für das so viel Unrecht begangen wurde, ja, für das gar Menschen ihr Leben ließen, entsprach sicher nicht meinen Vorstellungen eines geruhsamen Gelehrtendaseins. Mein Herzleiden befand sich auf dem Wege der Besserung, doch Ereignisse wie jene in der Gefangenschaft der Odiyan waren kaum dazu angetan, den Heilungsprozess zu beschleunigen.
    Wir erreichten die Tür des Thronsaales. »Du willst nicht etwa dort hineinplatzen?«, fragte ich angstvoll und wusste es doch besser.
    »Mir fällt keine andere Möglichkeit ein, umgehend mit Dalberg zu sprechen.«
    »Man wird uns des Landes verweisen.«
    »Vielleicht wäre das unser Glück.«
    Mit diesen Worten durchmaß er in weiten Schritten die Entfernung zur Tür. Ein Diener eilte ihm entgegen, um ihn aufzuhalten, doch Jakob schob den protestierenden Mann einfach beiseite. Daraufhin riss jener den Mund auf und rief lautstark nach der Wache. Ich hörte schon, wie die Soldaten herantrampelten. Man würde uns für Mordbuben halten und schlichtweg erschießen, das war sicher.
    Jakob klopfte, wartete jedoch nicht auf Antwort, sondern öffnete einfach die Tür. Nebeneinander marschierten wir in den Saal, hinter uns der Diener und in einiger Entfernung die herbeistürmenden Soldaten.
    Sechs Männer saßen an einer langen Tafel und blickten verblüfft zu uns auf. Einer davon war Dalberg, ein anderer, in prächtiger Uniform, der junge Großherzog. Der dritte Mann stieß einige Worte auf Englisch aus; sein Äußeres verriet den Aristokraten.
    Ich kam nicht dazu, einen von ihnen genauer zu betrachten. Es waren allein die drei übrigen Männer, die meine Blicke auf sich zogen. Wie erstarrt blieb ich stehen, und ein Ausruf des Schreckens entfuhr meiner Kehle.
    Nein, das konnte nicht sein! Durfte nicht sein!
    Auch Jakob war wie vom Blitz getroffen stehen geblieben. Hinter uns stürmten die Soldaten heran, aber das nahm keiner von uns mehr wahr. Beide starrten wir nur auf die drei Gestalten, die nun von ihren Stühlen sprangen.
    Kaltes Grauen bemächtigte sich meiner. Erinnerungen stiegen empor. Erinnerungen an furchtbare Morde, an ein Duell in den Trümmern eines Tempels, an einen Mann, der uns vor sieben Jahren von Weimar nach Warschau gehetzt hatte.
    Spindel!
    Die drei Männer waren seine exakten Ebenbilder. Kahlköpfig, vollkommen haarlos. Jeder Fingerbreit der Haut mit Schriftzeichen tätowiert, Zitaten aus dem Alten und dem Neuen Testament. Selbst ihre Gesichter waren mit fein ziselierten Versen bedeckt.
    Spindels Zorn war auferstanden.
    Die Vergangenheit hatte uns eingeholt.
     
    * *

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