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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dergleichen nie gesehen, und ich weiß nicht, welcher Schrecken der größere war: der unvermutete Einbruch in einen Akt von solcher Intimität oder der Anblick des blut – und schleimtriefenden Kindes, das Hadrian soeben zwischen den Schenkeln des Mädchens ans Tageslicht brachte. Mir wurde schwindlig und noch dazu übel, während Jakob mit gebanntem Blick an der Szene hing. Ihm diente selbst das Entsetzliche als Nahrung seiner Neugier.
    Das winzige Kind begann zu schreien, während Nanette verstummte. Ihr kreidebleiches Gesicht lag inmitten einer Flut roten Haars, doch, ich muss es gestehen, mein Blick war allein auf die klaffende Öffnung zwischen ihren Beinen gerichtet. Hadrian durchschnitt die Nabelschnur und tat wohl auch alles Weitere, was nötig war, doch ich hatte keinen Sinn dafür. Ich konnte nur auf das lebensspendende Organ dieses Mädchens starren, abgestoßen und gleichermaßen fasziniert.
    Ich schloss die Augen, schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und ließ mich an der Mauer hinab zu Boden sinken.
    »Lieber Himmel«, stammelte ich immer wieder.
    Bei Gott, war mir schlecht!
    Jakob hockte immer noch auf den Knien vorm Fenster und blickte in das Zimmer. »Sie hat das Bewusstsein verloren«, flüsterte er fasziniert. »Ist das immer so?«
    »Sagte Hadrian nicht, es sei erst in einigen Wochen so weit?«
    »Wahrscheinlich war all die Aufregung zu viel für die Arme.«
    Ich atmete tief ein und aus, in der Hoffnung, die kalte Luft könne mein aufgewühltes Inneres betäuben. Mein Blick streifte den Waldrand.
    Da sah ich sie.
    »Jakob!«, zischte ich ihm zu. »Runter, schnell!«
    »Was …?«, begann er, doch da hatte ich ihn schon gepackt, vom Fenster fortgerissen und zwischen die vorderen Büsche gezerrt.
    »Hättest du die Güte, mir …«
    »Still!«
    Ich deutete auf die Bäume am Ende des Gartens. Jakob blickte an meinem ausgestreckten Arm entlang, bis auch er sie entdeckte. Gestalten mit riesigen Vogelköpfen. Eulen, Adler, Falken. Mindestens drei. Hinter ihnen im Dunkel des Waldes sah ich Bewegung, vielleicht von Pferden, vielleicht von weiteren Odiyan.
    Jakobs Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Wo sind Jades Wachposten?«
    Darauf bedurfte es keiner Antwort. Die Odiyan mussten sie überwältigt haben. Wer hätte auch ahnen können, dass sie hierher zurückkommen würden? In Karlsruhe musste es Dutzende Schwangere geben, nicht nur Nanette.
    »Wir müssen Hadrian warnen«, flüsterte Jakob.
    »Nein«, widersprach ich.
    Er sah mich erstaunt an. »Wie bitte?«
    »Nein«, sagte ich noch einmal. »Sieh doch, da am Haus.«
    Jakob blickte zwischen den Ästen zur Hintertür hinüber. Ein Stöhnen entfuhr seinen Lippen.
    Hadrian war ins Freie getreten, das nackte Neugeborene in beiden Händen. Der warme, feuchte Körper des Kindes dampfte in der Kälte des Winterabends. Das Gesicht des Doktors war wie aus Stein, als er das winzige Kind mit ausgestreckten Armen über seinen Kopf hielt. Dass er dabei keinen Ton von sich gab, erhöhte nur das unwirkliche Grauen der Szene.
    Die Büsche schützten uns vor den Blicken des Doktors und der Vogelmänner, aber wer schützte uns vor ihrem Anblick? Denn nun kamen die drei Odiyan heran, ungemein schnell, mit gebeugten Rücken, was ihnen die Haltung flinker Affen verlieh. Ihre dunkle Kleidung machte sie fast unsichtbar in der Dämmerung, nur die hellen Federmasken stachen deutlich aus den Schatten hervor. Lautlos sprangen sie durch die Büsche heran, bis sie vor dem Doktor zum Stehen kamen.
    Hadrian hielt einem der drei das wimmernde Kind entgegen. Seine Hände zitterten, als der Odiyan das Neugeborene gierig an sich riss. Kein Wort wurde gewechselt, auch keine Belohnung.
    Jakob stieß mich an. Sein bebender Zeigefinger wies auf einen der beiden Vogelmänner im Hintergrund. »An seinem Hals«, flüsterte er atemlos, »das sieht doch aus wie – «
    »Vaters Uhr«, gab ich leise zurück. »Ja, sie ist es.«
    Jakob starrte mich an, doch ich konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. Der Odiyan hatte sie mir gestohlen, als ich ohne Bewusstsein war. Nun trug er sie an der Kette um seinen Hals wie eine goldene Brosche.
    Die Vogelmänner wandten sich ohne einen Laut um und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Hadrian blickte ihnen noch einen Augenblick nach, dann trat er zurück ins Haus und schloss die Hintertür. Ein Riegel schnappte ein. Jenseits der vorderen Baumreihen am Waldrand erklang Pferdegetrappel, das sich allmählich entfernte. Wir

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