Die Winterprinzessin
noch in tiefer Bewusstlosigkeit dalag. Mit bebenden Fingern zog er eine Decke über ihre nackten Beine. Durch das offene Fenster blies der Winter herein.
»Sie glauben, ich will meinen Hals aus der Schlinge ziehen, nicht wahr?«, sagte er, ohne sich zu uns umzudrehen. Seine Hände streichelten das weiße Gesicht des Mädchens. »Aber das ist es nicht. Alles, was ich will, ist Nanettes Seelenfrieden. Der Verlust des Kindes … damit hat sie genug zu erdulden. Sie muss nicht auch noch die ganze Wahrheit erfahren. Nehmen Sie mein Angebot an – um ihretwillen!«
»Niemals«, beharrte Jakob.
»Was für eine Art von Hinweis ist das, den Sie uns versprechen?«, fragte ich.
Hadrian atmete tief. »Es ist wichtig. Wirklich wichtig. Vor allem für Sie, denn Sie haben an Dinge gerührt, an denen bereits ganz andere zu Grunde gegangen sind.«
Jakob schüttelte den Kopf. »Sie wollen uns täuschen.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich die Wahrheit sage.«
Jakob schnaubte verächtlich. »Das Wort eines Kindsmörders.«
Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter und führte ihn ans Fenster. Dort beugte ich mich nahe an sein Ohr, damit Hadrian meine Worte nicht hörte. »Sei nicht zu voreilig«, flüsterte ich. »Selbst wenn wir zur Gendarmerie gehen – Hadrian wird nichts geschehen. Wir haben keine Beweise. Das Kind ist fort, es gibt keinen Leichnam. Er kann mühelos behaupten, er habe es begraben und Wölfe hätten es aus der Erde gezerrt. Der Doktor gilt als respektabler Mann, vergiss das nicht. Was also haben wir zu verlieren, wenn wir auf sein Angebot eingehen?«
»Unsere Ehre.«
»Besser als unser Leben«, gab ich zurück. »Ich war in der Gewalt der Odiyan, Jakob, vergiss das nicht. Und ich schwöre dir, ich will das niemals, niemals wieder erleben. Deshalb lass uns hören, was Hadrian zu sagen hat.«
Er starrte einige Sekunden lang hinaus ins Dunkel, dann nickte er knapp. »Vielleicht hast du Recht.«
Wir gingen zurück zu Hadrian, der mit tränennassen Augen auf Nanette herabblickte und zärtlich über ihr Haar strich. »Ist sie nicht wunderschön?«, murmelte er leise, wie im Selbstgespräch.
»Sie haben unser Wort, dass wir Stillschweigen bewahren werden«, sagte ich.
Er drehte sich um und musterte uns eingehend. »Ich kann Ihnen vertrauen?«
»Wir sind Ehrenmänner«, entgegnete Jakob steif, als wolle er sich selbst überzeugen.
»Was ich Ihnen sagen werde, haben Sie nicht von mir erfahren. Hören Sie? Nicht von mir.«
»Einverstanden.«
Hadrian taumelte zu einem Stuhl und ließ sich schwer darauf nieder. »Bitte, schließen Sie das Fenster«, sagte er.
Ich schob den Riegel vor.
»Und die Tür«, fügte er hinzu.
Auch das geschah. Dann standen wir da und blickten ihn erwartungsvoll an.
Der Blick des Doktors klebte am Fenster, als erwartete er, jemand stünde draußen in der Finsternis und höre zu. »Haben Sie je vom Quinternio der Großen Fragen gehört?«
Jakob und ich wechselten einen Blick. Fünf Fragen und fünf Teufel, hatte die Märchenfrau gesagt. Und nun das: der Quinternio – die Fünfheit – der Großen Fragen.
»Was ist das?«, fragte Jakob.
»Was es ist – nun, darauf kann ich Ihnen kaum eine befriedigende Antwort geben«, gestand Hadrian. »Der Quinternio ist eine … eine Macht, könnte man wohl sagen. Eine Kraft. Eine Gewalt hinter den Kulissen, mit eigener Exekutive. Alles kreist um die fünf Großen Fragen: Warum, Wie, Wer, Wo und Wann.«
»Werden Sie deutlicher«, verlangte Jakob.
Der Doktor hob die Schultern. »Ich weiß selbst nicht viel mehr darüber, als dass es sich beim Quinternio um die Verkörperung eines philosophischen Konzeptes handeln muss.«
»Inwiefern?«
»Alles wurzelt in den fünf Großen Fragen. Sie sind die grundlegenden Fundamente unseres Denkens, sie machen den Menschen zu dem, was er ist. Vor allem aber regieren sie die Sprachen der Welt, denn ohne Fragen wäre jedes andere Wort ohne Sinn. Alles lässt sich auf sie zurückführen. Ohne Fragen gibt es keine Antworten, keine Erklärungen, keine neuen Erkenntnisse. Es gäbe keine Wissenschaft, keine Vernunft, auch kein Leben, wie wir es kennen.«
»Es ist noch nicht lange her, da hat uns jemand etwas Ähnliches angedeutet«, sagte ich nachdenklich.
Hadrians Augenbrauen zuckten. »Wer?«
»Eine alte Frau in der Stadt. Ihr Name ist Runhild. Wir besuchten sie, um – «
»Runhild!«, rief Hadrian aus. »Natürlich.«
Jakob trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Fahren Sie fort.«
Der
Weitere Kostenlose Bücher