Die Winterprinzessin
Lampenscheins, ein gewaltiges schwarzes Sägeblatt, das in den Nachthimmel schnitt. »Ich möchte von vorne beginnen«, sagte Dalberg, »auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen. Am 29. September, vor etwas mehr als drei Monaten also, wurde der badische Erbprinz geboren, der Sohn des Großherzogs Karl und seiner Gattin Stephanie. Siebzehn Tage später, am 16. Oktober, wurde der Tod des Kindes bekannt gegeben. Die Ärzte, die den Leichnam untersuchten, versicherten, es sei mit ganz natürlichen Dingen zugegangen; ein Mord wurde ausgeschlossen. Dies, meine Herren, ist die offizielle Schilderung der Ereignisse und eine, an der ich Sie bitten möchte festzuhalten.
Natürlich ahnen Sie – oder wissen Sie bereits –, dass die Wahrheit ein wenig anders aussieht. Tatsächlich wurde das Kind gleich nach der Geburt ausgetauscht. Der kleine Junge, der fortan in der herzoglichen Wiege lag und einige Tage später verstarb, war in Wirklichkeit der Sprössling einer verlässlichen Bediensteten. Nicht einmal der Großherzog und seine Frau ahnten etwas von dem Kindertausch. Beide nahmen weiterhin an, der Junge, den sie bereits in ihr Herz geschlossen hatten, sei ihr leibhaftiger Sohn.« Wieder schaute Dalberg misstrauisch in die Finsternis. Er machte einen Schritt auf uns zu und senkte seine Stimme. »Eine Intrige von solchem Ausmaß, die in so delikatem Umfeld und ohne Wissen des Großherzogs stattfindet, kann zwangsläufig nur in höchsten – und ich meine wirklich in allerhöchsten – Regierungskreisen ersonnen worden sein.«
»Vom Kaiser«, flüsterte Jakob.
Dalberg nickte. »Von ihm und seinen Beratern, ja.«
»Zu denen auch Sie zählen.«
Er lächelte, fast ein wenig kokett. »Er vertraut mir, wenigstens in einem gewissen Maße.« Eine Untertreibung, natürlich, denn immerhin hatte Bonaparte sich dem Minister so weit ausgeliefert, dass er durch ihn seine Adoptivtochter und seinen Schwiegersohn um ihr Kind bringen ließ.
Dalberg fuhr fort: »Der Kaiser fürchtet den Einfluss gewisser Kreise am badischen Hof auf das Kind. Deshalb hielt er es für unumgänglich, seinen Thronfolger verschwinden zu lassen, um ihn erst, wenn er die Zeit für gegeben hält, wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu entlassen.«
»Welche Kreise sind das?«, fragte ich.
Die Antwort gab nicht Dalberg, sondern Jakob: »Die Gräfin Hochberg.«
»Gut kombiniert«, bestätigte der Minister ohne Erstaunen. »Die Gräfin Hochberg ist eine gefährliche Frau. Es gibt viele, die ihr blindlings folgen, ohne dies nach außen zu zeigen. Selbst einige der engsten Vertrauten im Umfeld des Großherzogs stehen mit dem Herzen auf ihrer Seite. Alte Verbindungen sind schwer zu kappen, gerade an einem Hof wie diesem. Viele haben sie noch als Gattin des früheren Regenten in Erinnerung.«
»Ich nahm an, die Gräfin habe keinerlei Einfluss mehr auf die Regierungsgeschäfte Badens«, sagte ich verwundert.
»Ich selbst und einige andere halten sie aus allem heraus, und bisher ist es uns gelungen. Das aber wird sich ändern, falls sie das ehrgeizigste ihrer Ziele erreichen sollte. Denn die Gräfin plant nichts Geringeres, als ihre eigenen Söhne zu Badens Thronfolgern zu machen.«
»Wie sollte ihr das gelingen?«
»Wie Sie sicher wissen, war die Gräfin Hochberg die zweite Frau des früheren Großherzogs Karl Friedrich. Erbberechtigt sind aber nur seine Kinder aus erster Ehe und deren Nachkommen, wie etwa der derzeitige Großherzog Karl. Die Gräfin aber wünscht nichts sehnlicher, als dass ihre eigenen Söhne den Thron besteigen. Der neugeborene Sohn des Großherzogs stand dem natürlich im Wege, denn mit jeder neuen Generation verringert sich ihre Aussicht, jemals die eigenen Kinder als Regenten Badens zu sehen.«
Jakobs Stirn lag in nachdenklichen Falten. Trotzdem schien er weniger Mühe zu haben als ich, den Ausführungen Dalbergs zu folgen. »Also fürchtete Napoleon, die Gräfin würde dafür sorgen, dass der kleine Sohn des Großherzogs ihr nicht länger im Wege steht – durch einen Unfall oder einen geschickt getarnten Mord.«
»So ist es«, bestätigte Dalberg. »Der Kaiser beschloss insgeheim, der Gräfin zuvorzukommen. Er sorgte dafür, dass das Kind verschwand.«
Ich begriff noch immer nicht ganz. »Aber damit erreicht er doch das genaue Gegenteil seines eigentlichen Strebens, denn der Weg für die Söhne der Gräfin ist damit frei.«
»Vorerst, ja. Möglicherweise werden die Hochbergs in einigen Jahren den Thron besteigen, stolz und
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