Die Winterprinzessin
Doktor nickte. »Der Quinternio versteht sich als Verkörperung dieser fünf fundamentalen Fragen. Aber, bitte, fragen Sie mich nicht, was genau man sich unter dieser Verkörperung vorzustellen hat. Sind es fünf Menschen, fünf Reiche, fünf Armeen, Kirchen, Religionen? Ich weiß es nicht. Sicher aber ist, dass der Quinternio in gewissen Augenblicken in die Verstrickungen der Menschen eingreift, vor allem wenn es um Fragen der Macht geht, großer Macht.«
»Wie kann er das, wenn er sich nicht zu erkennen gibt und seine Ziele geheim hält?«, fragte Jakob.
»Es gibt Männer und Frauen, die ihm treu ergeben sind«, erklärte Hadrian. »Aber ich will nicht den Eindruck erwecken, als handele es sich bei dem Quinternio nur um einen einzelnen Mann oder eine Person. Er setzt sich aus fünf Teilaspekten zusammen, deren ehernes Gesetz es ist, sich niemals und niemandem zu offenbaren.«
»Eine Art geheimer Bund?«, warf ich ein.
»Mehr als das«, widersprach er. »Eine Verbindung reinster Macht, ohne Gewissen oder Skrupel. Wie eine Ameisenkönigin, die ihr Volk nach den Gesichtspunkten purer Pragmatik regiert. Gefühle werden nicht überwunden, es gibt sie einfach nicht. Das mag gegen einen Bund von fünf einzelnen Menschen sprechen.«
Jakob räusperte sich vernehmlich. »Das alles ist zweifellos wissenswert und bedeutungsvoll, doch inwiefern sollte es uns betreffen?«
Hadrian warf einen Blick auf die schlafende Nanette, dann zum schwarzen Fenster. Schließlich starrte er uns eingehend an. »Ich sprach von den Agenten des Quinternio. Sie sind unter uns. Sie verfolgen uns.«
Mir kam ein Gedanke. »Sind sie am ganzen Körper tätowiert? Mit Bibelsprüchen?«
Der Doktor legte verdutzt den Kopf schräg. »Tätowiert? Nein, nicht dass ich wüsste. Die Geschöpfe des Quinternio handeln unerkannt und unauffällig. Sogar Sie beide könnten dazu gehören.«
»Wir?«, fragten Jakob und ich wie aus einem Mund.
»Natürlich.« Er gestattete sich ein feines Lächeln. »Doch es gibt andere, vor denen Sie sich in Acht nehmen sollten. Überlegen Sie sich sehr gut, zu wem Sie sprechen und mit wem Sie sich einlassen. Denken Sie daran: Jeder kann ein Diener des Quinternio sein.«
Für meinen Geschmack klang das alles nach Verfolgungswahn, nach einem wirren Gespinst seiner Fantasie. Durch meine Erinnerung flatterten die toten Schmetterlinge. Hatte Hadrian den Verstand verloren?
Mit hohler Stimme fuhr er fort. »Geben Sie Acht auf einen Mann namens Stanhope. Lord Stanhope, ein Engländer.«
Es mag Zufall gewesen sein, doch im Lichte dessen, was später geschah, kann ich nicht daran glauben: Im selben Augenblick, Hadrian hatte kaum zu Ende gesprochen, erklang ein lautes Pochen; es kam aus dem vorderen Teil des Hauses.
»Es ist jemand am Eingang«, flüsterte Jakob.
Der Doktor war blass geworden und schwieg.
»Wollen Sie nicht öffnen?«, fragte ich. »Erwarten Sie jemanden?«
Hadrian schüttelte wortlos den Kopf.
Jakob sah mich an. »Man wird uns suchen. Sicher hat uns irgendwer beobachtet, als wir in den Park gingen.«
»Möglich«, erwiderte ich flau. »Sollen wir nachsehen?«
»Nein!«, rief Hadrian aus. »Was, wenn sie zurückgekommen sind?«
»Die Odiyan?« Jakob schüttelte entschieden den Kopf. »Weshalb sollten sie das tun? Sie haben doch alles bekommen, was sie wollten.« Misstrauen schlich sich in seine Stimme. »Oder ist da noch ein anderer Grund, Doktor Hadrian? Könnte es noch etwas geben, das die Odiyan hierher treibt?«
Ein weiteres, ungleich lauteres Pochen enthob den Doktor einer Antwort.
Jakob nickte mir zu und ergriff einen vierarmigen Leuchter. Dann verließen wir gemeinsam das Zimmer. In der Eingangshalle waren die hohen Brokatvorhänge wieder zugezogen. Der Schmetterlingsfriedhof lag im Schatten.
Wenige Schritte vor der Haustür blieb ich stehen und hielt Jakob zurück. »Und wenn es wirklich die Odiyan sind?«
»Warum, um alles in der Welt, sollten sie mit einem Mal anklopfen? Das scheint mir kaum ihre Art zu sein. Sagte nicht Dalberg, er wollte uns einen Boten seines Vertrauens schicken? Jemand, der uns am Abend zu ihm führt? Nun, jetzt ist es Abend.«
Keineswegs beruhigt, wenngleich auch nicht mehr ganz so verängstigt wie zuvor, trat ich gemeinsam mit ihm an die Tür.
»Wer ist da?«, fragte Jakob laut.
Dumpf erwiderte eine Stimme durch das dicke Holz: »Der Minister schickt mich.«
Jakob schenkte mir seinen heiß geliebten Ich-hatte-Recht-Blick- Dann öffnete er die Tür.
Im Dunkel stand
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