Die Winterprinzessin
ein Mann, eingehüllt in einen Fellmantel von edlem Schnitt. Er hatte ein langes, schmales Gesicht, sein dunkles Haar war leicht gewellt. Er mochte nur wenig älter sein als wir selbst, und trotz des fahlen Kerzenscheins erkannte ich ihn sofort. Es war der Engländer aus dem Audienzsaal des Großherzogs, der Mann, der mit Dalberg und Spindels Brüdern an einem Tisch gesessen hatte. Und natürlich ahnte ich seinen Namen, noch ehe er sich uns mit britischem Akzent vorstellen konnte:
»Stanhope, Philip Henry Lord Stanhope. Ich komme im Auftrag meines Freundes Dalberg.« Seine Stimme war weich, keineswegs unangenehm. Mit der Hand wies er hinter sich durch den nachtschwarzen Wald zum Schloss. »Der Minister wünscht sich draußen im Park mit Ihnen zu treffen. Ich möchte Sie bitten, mir zu folgen.«
Hinter uns im Haus schlug eine Tür. Ein Riegel krachte. Hadrian hatte sich eingesperrt.
Z WEITER T EIL
Die Wahrheit? – Aufbruch mit Ungewissem Ziel – Der
schmerzlichste Verrat – Ihre Herrlichkeit, noch herrlicher – Die
Legende vom Polarstern – Was am Grunde des Ozeans lag – Pathos – Blut im Getriebe der Zeit – Warum ausgerechnet sie?
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E ndlich!«, rief Dalberg erleichtert aus, als er uns kommen sah. »Ich befürchtete schon das Schlimmste. Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt?«
»Bei Hadrian«, nahm Stanhope unsere Antwort vorweg. Welch ein Flegel! Ich sah ihn vorwurfsvoll an, doch er überging meinen stillen Protest.
Dalbergs Miene verfinsterte sich. »Hadrian? Sie kennen ihn?«
»Flüchtig«, entgegnete Jakob. Der Minister und Stanhope tauschten finstere Blicke.
Wir standen inmitten einer hufeisenförmigen Gruppe von Tannen. Die Äste der Bäume schützten uns vor den Eiswirbeln, die der schneidende Nachtwind mit sich trug. Es war dunkel, nur eine Öllampe, die Dalberg vorsichtig im Schnee abgestellt hatte, gab ein wenig Licht. Ihr Schein flackerte von unten über unsere Gesichter. Durch die Öffnung im Tannenring waren die hellen Fenster des fernen Schlosses zu sehen. Es sah aus, als sei ein Stück Sternenhimmel am Boden gestrandet.
Instinktiv griff ich in meine Brusttasche, um einen Blick auf die Uhr zu tun. Wieder entsann ich mich ihres Verlustes. Der Gedanke daran schmerzte noch immer.
Dalberg wandte sich an Lord Stanhope. »Würdest du uns bitte allein lassen?«
Stanhope parierte den Affront mit Würde. »Wenn du es wünschst«, entgegnete er knapp, dann drehte er sich um und stapfte in Richtung des Schlosses davon. Ich sah ihm nach, bis er eins wurde mit der pechschwarzen Nacht.
»Ein Freund von Ihnen?«, fragte Jakob misstrauisch.
Dalberg nickte. »Wir kennen uns schon lange. Der Lord ist ein Mann von hohem Ehrgefühl und Anstand. Manchmal etwas mürrisch, aber immer da, wenn es darauf ankommt.«
»So wie heute, als die Jesuiten im Schloss waren?«
Dalberg blinzelte erstaunt. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts. Gar nichts.« Jakob sah sich demonstrativ um. »Ein merkwürdiger Ort für eine Unterredung.«
Dalberg schluckte den Spott meines Bruders ohne Widerspruch. Ein Mann in seiner Stellung war es gewohnt, dass man ihn angriff.
»Ich habe Ihnen Antworten versprochen«, sagte er und zog seinen Schal bis zum Kinn. »Es schien mir angebracht, unser Gespräch an einen sicheren Ort zu verlegen. Man sagt, dass manche Wände Ohren haben, und wenn es einen Ort auf der Welt gibt, auf den dies ganz besonders zutrifft, dann ist es fraglos dieses Schloss. Tatsache ist, dass ich niemandem trauen kann, außer vielleicht dem guten Stanhope.«
»Sie zweifeln an der Loyalität Ihres Sekretärs?«, fragte Jakob, der die Anspielung Dalbergs viel schneller begriff als ich.
»Auch an der seinen, ja«, bestätigte der Minister. »Aber lassen Sie uns zum eigentlichen Grund unseres Hierseins kommen. Wir müssen uns unterhalten – über viele Dinge.«
»Als Erstes über das Kind«, schlug ich vor.
Dalberg nickte. »Ja – das Kind.« Ihm war anzusehen, wie seine Gedanken in die Vergangenheit schweiften. »Ein wenig wissen Sie ja bereits darüber. Und wenn ich Ihre Aktivitäten am heutigen Abend und in den vergangenen Tagen richtig einschätze, scheint mir dieses Wenige sehr viel mehr zu sein als das, was ich selbst Ihnen mitgeteilt habe.«
Ich scharrte betreten mit einem Fuß im Schnee, während Jakob den Minister unbeirrt ansah. Immer schon war ich der Reumütigere von uns beiden gewesen.
Dalberg blickte sich fröstelnd um. Die Tannenspitzen lagen außerhalb des
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