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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Unterschied zwischen mir und diesen Bestien sehr genau.«
    Ich verzog das Gesicht. »Selbst Nero hielt sich für einen gerechten Herrscher.«
    »Nero?«, fragte sie und legte den Kopf schräg.
    Ich winkte ab. »Sie werden den armen Gerard also foltern?«
    »Nur wenn er Wert darauf legt.«
    »Sie meinen, wenn er seinen Kaiser nicht verrät.«
    »Sein Kaiser ist ein Dieb. Hat er nicht Ihr Land unterworfen, Herr Grimm? Hat er nicht Tausende und Abertausende junger Männer, die hier geboren wurden, in den Tod geschickt?«
    »Es ist weder an mir noch an Ihnen, darüber ein Urteil zu fällen.«
    Zorn glühte in ihren herrlichen Augen. »So viel Gleichgültigkeit passt nicht zu Ihnen. Das sind nicht Sie, der da spricht. Es ist Ihre Erziehung zu sturer Hörigkeit.«
    Ich gab keine Antwort. Es war zwecklos, mit ihr zu streiten. Um mich zu beruhigen und meine Gedanken in geordnetere Bahnen zu leiten, besah ich mir die Abteiruine genauer. Es gab ein lang gestrecktes Haupthaus, daneben zwei vorgezogene Anbauten. Einer davon, der rechte, war eine Kirche. Ihr Turm, vier oder fünf Stockwerke hoch, war der einzige Teil des ganzen Bauwerks, der von den Flammen verschont geblieben war. Unter seiner Spitze schmückte ihn eine bronzefarbene Turmuhr, deren Zeiger auf halb acht wiesen; der Mechanismus hatte die Flucht der Bewohner auf wundersame Weise überdauert. Die übrigen Bauten waren unbenutzt und leer, die Mauern schwarz wie Kohle. Auch von den Dachstühlen war kaum mehr als ausgeglühtes Balkenwerk geblieben. Schneehauben krönten die Mauerkanten. Das ganze Bild sah aus, als habe man ihm jegliche Farbe entzogen, nur Schwarz, Weiß und Grau waren übrig geblieben.
    »Wie wird es weitergehen?«, fragte ich.
    »Ich kann Sie nicht nach Karlsruhe zurückkehren lassen«, erwiderte sie im Tonfall echten Bedauerns. »Zumindest noch nicht.«
    »Sie setzen meine Existenz aufs Spiel.«
    »Es geht hier um mehr als Ihre oder meine Zukunft. Um viel mehr.«
    Die beiden Krieger, die einzigen, die Jade geblieben waren, kehrten zurück. Ohne Stanhope. Sie machten sich daran, die fünf Reitpferde vom Schlitten zu lösen und in den linken Anbau zu führen.
    »Wie haben Sie herausgefunden, wann und wo ich abreisen würde?«, fragte ich.
    »Kala brachte es in Erfahrung.«
    »Dann war er es, der sich heute Morgen im Park versteckte?«
    Sie nickte. »Mit dem Schlitten konnten wir Sie mühelos überholen und unterwegs erwarten.«
    »›Mir auflauern‹ wäre vielleicht die bessere Umschreibung.«
    Jade hob gleichgültig die Schultern. »Ganz wie Sie wünschen.«
    »Woher aber wusste Kala, wann er sich im Park einzufinden hatte – und an welcher Stelle?«
    Sie wandte sich ab und begann zur Abtei hinüberzugehen. Ich folgte ihr.
    »Nun?«, fragte ich noch einmal, als sie keine Antwort gab.
    »Sie müssen nicht alles erfahren, Herr Grimm. Nicht, solange wir nicht zusammenarbeiten.«
    »Was sollte mich dazu bewegen können?«
    Ein Lächeln blitzte über ihre Züge. »Warten wir ab.«
    Wir betraten das Haupthaus der Abtei durch ein Doppeltor, dessen angesengte Flügel windschief in den Angeln hingen. Dahinter lag ein größerer Raum, einstmals wohl die Eingangshalle. Ihr Boden war mit den Trümmern des oberen Stockwerks übersät; die Decke war bei dem Brand zusammengebrochen. Eine breite Treppe führte hinauf ins Nichts.
    Jade sah sich um. »Ist es nicht eigenartig«, meinte sie düster, »wie uns dieser Anblick bewegt, obgleich wir doch nichts über die Menschen wissen, die hier gelebt haben?«
    Es gelang ihr stets von neuem, mich zu erstaunen. Einen Anflug von Melancholie hatte ich in diesem Augenblick am wenigsten erwartet.
    »Ja«, erwiderte ich kurz.
    Sie schenkte mir einmal mehr ihr undurchschaubares Lächeln. Dabei warf sie das lange schwarze Haar nach hinten. Die Rubine in ihren Nasenflügeln blitzten in einem Lichtstrahl, der durch das zerstörte Dach herabstach und ihr Gesicht in Helligkeit tauchte.
    »Irgendwer muss regelmäßig herkommen und die Uhr aufziehen«, sagte sie. »Ich bin auf den Turm gestiegen, die Räder drehen sich noch. Eine faszinierende Apparatur.«
    »Ich dachte, Sie sind an den Anblick von Uhren gewöhnt.«
    »Wegen meines Vaters? Das war keine Lüge. Er sammelt tatsächlich Uhren. Meine Schwestern und ich sind zwischen Hunderten von Uhren aufgewachsen.«
    »Wie viele Schwestern haben Sie?« Es war eine Frage aus Verlegenheit; die Antwort interessierte mich nicht wirklich.
    »Vierzehn«, sagte sie. »Und sieben Brüder. Aber

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