Die Winterprinzessin
Beinwunde. Dort musste ihn der allererste Schuss getroffen haben.
Jade gab Kala einen Wink. Der Alte trat neben ihr aus dem Gebüsch. Eilig beugte er sich über den verletzten Kutscher, der schrill aufschrie, als der Fakir einen Finger auf die Wunde legte. Kala zog einen winzigen Tiegel unter seinem Überwurf hervor und begann, die Verletzung mit einer hellen Salbe zu betupfen. Gerard brüllte bei jeder Berührung, doch seine Schreie wurden von Mal zu Mal leiser. Offenbar linderte die Medizin seinen Schmerz.
»Ich hätte es mir denken sollen«, spie ich der Prinzessin verächtlich entgegen.
Jades Blick flackerte, aber sie sagte kein Wort. Mit einem Handzeichen gab sie ihren Männern zu verstehen, sie sollten Stanhopes Hände fesseln. Noch während sie dies taten, trat Jade auf den Engländer zu und spuckte ihm ins Gesicht. Stanhope zuckte zusammen, doch hielt er seine Wut im Zaum und schwieg.
Dann erst wandte die Prinzessin sich an mich. Zwei Schritte vor mir blieb sie stehen.
Meine Angst war auf einen Schlag verschwunden. Da war ein Stechen in meiner Brust, das ich nicht einzuordnen wusste. War das wirklich dieselbe Jade, deren Antlitz sich so vehement in mein Denken gebrannt hatte? Dieselbe Frau, um derentwillen ich den Streit mit Jakob gesucht hatte? Was für ein böser Streich des Schicksals!
Ich wollte sie beschimpfen, verfluchen, verdammen, doch meine Stimme versagte angesichts solcher Hinterlist.
»Schauen Sie mich nicht so an«, sagte sie zu mir. »Sie sehen aus, als wollten Sie mich umbringen.«
Vielleicht konnten Blicke ja doch töten. Zumindest tat ich mein Bestes, es herauszufinden. Die Prinzessin zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Mir ist kalt«, sagte ich deshalb nur. »Falls Sie mich niederstechen wollen« – ich deutete auf die beiden Säbel in ihren Händen – , »dann tun Sie es bitte gleich. Ich sehe keinen Grund, mir vorher noch Frostbeulen zu holen.«
Sie lachte auf, mädchenhaft, ein gläserner Laut, der so gar nicht zu einer finsteren Schurkin passen mochte. Gerade das machte sie so gefährlich. »Sie erstechen?«, fragte sie belustigt. »Wieso sollte ich das tun?«
»Es wäre nett, wenn Sie mir eine Antwort darauf gäben, bevor Sie mich töten.« Es muss der Hauch des Todes gewesen sein, der mir den Mut verlieh, so mit ihr zu sprechen.
Jade seufzte. »Ach, Herr Grimm. Niemand wird Ihnen ein Leid antun.«
»Ja«, entgegnete ich gehässig, »da bin ich ganz sicher.«
Sie schüttelte den Kopf und sah wohl ein, dass es zwecklos war, länger mit mir zu reden. Stattdessen beugte sie sich über den blutenden Krieger, der reglos zu Stanhopes Füßen lag. Ihr Gesichtsausdruck, verwandelte sich einen Augenblick lang in Trauer, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Sie haben drei meiner Männer getötet, Lord Stanhope«, sagte sie. »Sie sind ein guter Kämpfer.«
»Nicht gut genug«, presste er zwischen verkniffenen Lippen hervor.
»In der Tat.« Sie wandte sich an Stanhopes Bewacher und befahl etwas in ihrer Heimatsprache. Daraufhin packten die beiden Männer den gefesselten Lord an den Oberarmen und führten ihn ins Dickicht.
»Was haben Sie mit ihm vor?«, fragte ich. »Wollen Sie ihn töten?«
Sie hob die Schultern. »Um ehrlich zu sein, wäre das wohl das Beste. Aber es widerspricht meiner Natur. Ich mag Blumen und Freundschaft und den berauschenden Rauch der Kräuter. Blut und Tod sind mir zuwider.«
Ich deutete auf den verwundeten Kutscher und zog eine Grimasse. »Er kann das sicher nachvollziehen.«
»Sie sind verständlicherweise aufgeregt. Ich fürchte, eine Unterhaltung mit Ihnen hat im Augenblick wenig Sinn.« Sie deutete mit der Säbelspitze auf die Schneise, in der Stanhope und seine Bewacher verschwunden waren. »Gehen Sie bitte dort entlang, Herr Grimm. Mein Schlitten wartet auf uns.«
»Wo bringen Sie uns hin?«
Sie lächelte milde. »Nun gehen Sie schon, bevor ich es mir anders überlege.« Dabei fuchtelte sie viel sagend mit den Säbeln herum, sodass ich es für angebracht hielt, ihrem Wunsch zu folgen.
Im Vorbeigehen sah ich, wie Kala dem Kutscher die Hände auf den Rücken band. Ich trat ins Gebüsch und entdeckte weiter vorne im Gezweig den Lord und die beiden Inder. Nicht einen Moment lang erwog ich, es mit ihnen aufzunehmen; ich war ihnen ohnehin nicht gewachsen. Auch ein Fluchtversuch war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wohin hätte ich mich in dieser Wildnis wenden sollen?
Die Schneise führte zu einer Lichtung, in deren Mitte der
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