Die Winterprinzessin
schrie auf, während das Geschoss genau gegenüber in das Polster der Rückenlehne schlug. Weiße Stofffetzen quollen hervor.
Ein lauter Ausruf in einer fremden Sprache ertönte, dann verstummten die Schüsse. Stanhope warf seine Pistole beiseite, packte den Säbel fester und stürmte aus meinem Blickfeld. Ich hörte Stahl auf Stahl klirren, wagte aber nicht, meinen Kopf aus der Tür zu recken. Ich würde den Ausgang des Kampfes früh genug erfahren.
Angst, schreckliche Angst peinigte meine Sinne. Ich zitterte am ganzen Leib. Es waren die Odiyan, daran konnte kein Zweifel bestehen. Noch sah ich sie nicht, doch ich hörte ihre rauen Stimmen, hörte, wie sie fremdartige Worte schrien, die keiner mir bekannten Sprache zugehörten.
Alles, was ich durch den offenen Einstieg erkennen konnte, war ein Stück Unterholz, das jenseits des Weges dicht verschlungen in die Höhe rankte. Nur schwarze Äste und weißer Schnee. Nichts sonst. Dazu die Geräusche des Kampfes, die schrillen Säbelhiebe, das Keuchen der Kontrahenten, ihre Rufe und Schreie. Es mussten noch immer mehrere sein, denen Stanhope erbitterten Widerstand leistete. Wie lange würde er der Übermacht standhalten? Und wo war Gerard? War er dem ersten Schuss zum Opfer gefallen?
Ganz, ganz langsam beugte ich mich vor, tastete unter Stanhopes Sitz. Vielleicht gab es dort noch weitere Waffen. Nicht, dass ich in den Kampf hätte eingreifen wollen – ich verstand mich weder auf den Umgang mit Klinge noch Pistole –, aber ein Dolch in der Hand mochte meine Furcht besänftigen. Doch unter der Bank fand sich nichts dergleichen, ich war den Feinden wehrlos ausgeliefert.
Das Gefecht dauerte an. Noch jemand schrie, nicht Stanhope. Ein Körper sackte in den Schnee. Das machte drei gefallene Gegner. Die Odiyan aber waren viel zahlreicher gewesen. Der Lord mochte so viele besiegen, wie er wollte, es würden stets neue hinzukommen. Wer immer sie aus Indien hierher geschafft hatte, er musste eine ganze Schiffsladung von ihnen angeheuert haben. Plötzlich begriff ich, dass wir längst geschlagen waren, auch wenn Stanhope sich noch gegen das Unausweichliche sträubte. Wir waren besiegt.
Die Erinnerung an den Minenkerker überkam mich. Fantastische Foltermethoden erstanden binnen Sekunden in meinem Geist. Herrgott, hätte ich wenigstens eine Pistole gehabt, um meinem Leben selbst ein Ende zu setzen!
Vielleicht half es, wenn ich einfach hinausstürmte. Mich auf einen der Gegner warf, in der Hoffnung, er würde mich erstechen. Ja, das war eine Möglichkeit.
Ich zögerte nicht, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Todesmutig sprang ich auf, stieß mir dabei den Kopf an der Kabinendecke und taumelte benommen ins Freie. Der Schmerz nahm mir für einen Augenblick die Sicht. Alles, was ich sah, waren verschwommene Schemen, keuchend, in hektischer Bewegung. Da, jetzt wurde es besser! Ich erkannte Stanhope. Er führte die Klinge gegen zwei Männer, die immer stürmischer auf ihn eindrangen. Ein dritter krümmte sich blutend im Schnee, erschlaffte just in jenem Moment, in dem mein Blick auf ihn fiel. Jene anderen beiden, die Stanhopes Kugeln gefällt haben mussten, lagen wohl irgendwo im Unterholz.
Ein besonders heftiger Schlag prallte gegen Stanhopes Säbel. Er fing ihn auf, ließ dabei jedoch den zweiten Gegner außer Acht. Der nutzte den günstigen Augenblick und stieß seine eigene Klinge vor, um sie in Stanhopes Oberschenkel zu bohren. Offenbar wollte man den Lord nicht töten. Stanhope drehte sich geschickt zur Seite, entging dem Stich, verlor aber unter einem weiteren Hieb des ersten Feindes seinen Säbel.
Sogleich setzten die beiden nach. Eine Klingenspitze kam unter seinem Kinn zum Stillstand, die andere wies auf seinen Magen. Der Lord gab sich geschlagen. Er blieb stehen und hob langsam die Hände.
Ich selbst stand da wie angewachsen. Ich hätte weglaufen können, doch wohin? Wie weit wäre ich gekommen? Dabei war es nicht einmal die Angst, die mich erstarren ließ. Es war der Anblick der beiden Männer, die Stanhope in Schach hielten. Es waren Inder, ohne Frage, aber sie trugen keine Vogelmasken. Ich kannte ihre Gesichter, hatte sie gesehen, als sie mich aus der Mine befreiten.
»Jade!«, rief ich aus, als die Prinzessin plötzlich aus dem Unterholz trat. In jeder Hand trug sie einen Säbel. Hinter ihr dräute die Silhouette des Fakirs Kala. Er blieb im Schatten stehen.
Ein Keuchen ertönte. Der arme Gerard lag unweit von mir am Boden und hielt sich eine blutende
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