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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihrem Lächeln und dem heißblütigen Feuer in ihren Augen. Natürlich war es auch dem König so ergangen, und so kam es, dass die jüngere Frau große Macht über ihn gewann. Sie war eifersüchtig auf Suniti und, schlimmer noch, neidisch auf das Glück, das ihre Rivalin durch Dhruvas Geburt dem König geschenkt hatte. Vor lauter Hass ging sie zum Herrscher, betörte ihn mit Blicken und der Leidenschaft ihres Leibes und brachte ihn dazu, dass er Suniti und ihren Sohn vom Hofe verstieß.«
    Die Prinzessin holte Luft und schenkte mir einen kurzen, schwierig zu deutenden Blick, halb schwermütig, halb feurig, fast wie die Gestirne am Himmel, die noch so heiß brennen mochten, deren Strahlen jedoch kalt blieb wie Eis: lächelnd, ein wenig kokett, und dabei den Abgrund der Sterne in den verhexten dunklen Augen.
    »Suniti und ihr kleiner Sohn Dhruva mussten in die Wälder fliehen, wo sie sich versteckten, bis der Junge sieben Jahre alt war. Da schließlich fragte der Kleine: ›Wer ist mein Vater?‹ Suniti, die bislang nie vom König und ihrem einstigen Leben bei Hofe gesprochen hatte, gestand ihm unter Tränen die Wahrheit. Von da an ließ der Gedanke an den Vater dem Kind keine Ruhe mehr. Immer wieder und wieder stellte Dhruva seiner Mutter Fragen, und als er sie schließlich bat, den König besuchen zu dürfen, da gab sie ihm ihren Segen und ließ ihn gehen.
    Nach langer Reise voller Abenteuer gelangte Dhruva zum Palast seines Vaters, und tatsächlich zeigte sich der König hocherfreut, seinen Sohn in die Arme schließen zu können. Er hob ihn auf seinen Thron, schaukelte ihn auf den Knien, und selten zuvor hatten seine Untertanen den Herrscher so vergnügt und außer sich vor Glück gesehen. Als aber die junge, schöne Frau den unerwarteten Besucher gewahrte, wurde sie zornig, riss das Kind vom Schoß des Vaters und warf es eigenhändig aus dem Palasttor. Der kleine Dhruva eilte zurück in die Wälder zu seiner Mutter, und er fragte sie: ›Hat jemand noch mehr Macht als der König?‹ Und die Mutter antwortete: ›Nur Narayana ist noch mächtiger als er‹. – ›Dann kann nur er mir helfen‹, rief Dhruva aus. ›Wo aber finde ich ihn?‹ – ›Steige hoch in die Berge‹, riet ihm die Mutter, ›dann wirst du ihm wohl begegnen.‹
    Noch in derselben Nacht stahl Dhruva sich aus dem Haus und machte sich auf den Weg. Ohne Angst und ohne Zögern durchstreifte er den finsteren Dschungel. Er stellte sich mutig den wilden Tieren entgegen, doch keines fiel ihn an. Im Gegenteil, sobald sie ihn entdeckten, nahmen sie Reißaus. Selbst der mächtige Tiger kroch gebuckelt ins Unterholz, als der kleine Dhruva durch sein Jagdgebiet zog.
    Endlich erreichte der Junge die Ausläufer der Berge, kämpfte sich über Felsen und Gletscher empor und traf schließlich auf den Weisen Narada. ›Wo finde ich Narayana?‹, fragte er den Alten, obwohl er noch immer nicht wusste, wer oder was sich hinter diesem Namen verbarg. ›Was willst du von ihm?‹, fragte der Weise. Dhruva erwiderte: ›Er soll die Liebe meines Vaters zu mir so übermächtig machen, dass keine Frau der Welt mich mehr aus seinem Herzen vertreiben kann.‹ Der Weise Narada überlegte, dann sagte er: ›Beweg dich nicht von der Stelle. Bleib einfach hier stehen und warte ab. Diese Gipfel sind der Rand des nördlichen Himmels, deine Reise ist hier zu Ende. Denke fest an Narayana, richte all deine Gedanken auf ihn und habe Geduld. Dann wird er sich dir offenbaren.‹
    Lange, lange Zeit stand Dhruva so auf dem Gipfel des Gebirges, inmitten der Sterne. All sein Denken galt nur dem einen, dem Ziel seines Weges. Da schließlich stieg Narayana aus den höchsten Höhen herab und offenbarte sich dem geduldigen Kind – denn Narayana ist kein anderer als der große Vishnu selbst, der Sonnengott, der Höchste der Hohen. Die Beharrlichkeit des Jungen hatte ihn beeindruckt, und so erfüllte er Dhruvas Wunsch: Er erschuf den Jungen neu als Polarstern, auf dass er sich unauslöschlich in die Herzen des Königs und aller Menschen brannte und sie auf ewig mit Liebe und Wärme erfüllte.«
    Jade verstummte, hielt aber weiterhin den Blick zum Polarstern gerichtet, als suche sie in ihm nach einer Botschaft des kleinen Jungen, den ein Gott in pures Licht verwandelt hatte.
    »Ihre Götter sind ebenso grausam wie Ihre Gesetze«, sagte ich.
    Sie wandte den Kopf und sah mich an. »Wenn Sie das glauben, dann haben Sie die Legende nicht verstanden. Was auf den ersten Blick schrecklich erscheinen

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