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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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den ausgebrannten Sälen der Abtei, ertönten die Schreie des Kutschers. Jades Krieger versuchten bereits den ganzen Tag, ihn zum Sprechen zu bringen. Ein Dutzend Mal hatte ich gebetet, er möge ihnen das Versteck verraten, und sei es nur, damit seine Schreie verstummten und endlich Ruhe herrschte. Und doch brüllte er noch immer, mal laut und ausdauernd, mal leise und wimmernd wie ein Kind.
    Wie im Halbschlaf erhob ich mich. Die Leiden des Franzosen berührten mich nicht wirklich. Wie ein Schild beschützte mich mein eigener Schmerz. Gerards Qualen unterstrichen nur das Unwirkliche der tristen Szenerie.
    Die Prinzessin neigte den Kopf und betrachtete mich. »Sind Sie bereit, mit mir zu reden?«
    »Wir haben geredet«, entgegnete ich.
    Ihr ganzer Körper schien gespannt, als erwarte sie etwas. Ich sah, wie sich die Bauchmuskeln unter ihrer Samthaut abzeichneten. Sie trug dieselbe Kleidung wie am Morgen, mit einem Unterschied: Sie war barfuß, trotz des Schnees, und genau wie Kala schien es sie überhaupt nicht zu bekümmern. Sie hatte schöne Füße, sehr schmal und vom gleichen sanften Braun wie ihr ganzer Körper.
    »Bitte«, sagte sie, »ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Danach dürfen Sie gehen, wohin Sie wollen.«
    »Sie haben einmal gelogen, und Sie werden es wieder tun.«
    Einen Augenblick lang bewegte sie stumm ihre Lippen, dann erst kamen die Worte: »Ich habe nicht gelogen. Höchstens was die Suche nach den Uhrmachermeistern angeht.«
    »Zum Beispiel.«
    »Lassen Sie es mich wieder gutmachen. Hören Sie mir zu.«
    Mir war noch immer, als befinde sich mein eigentliches Ich irgendwo neben mir. Meine Vernunft schien verloren gegangen zu sein, denn ich folgte Jade ohne weiteren Widerspruch, als sie tiefer in den Wald vordrang. Ein trauriges Lächeln lag um ihre Mundwinkel, als hinge sie immer noch trüben Gedanken nach. Es konnte wohl kaum die barbarische Heimat sein, nach der sie sich sehnte. Oder doch? Ich war immer noch weit davon entfernt, alle Facetten dieses Mädchens zu verstehen. Ihr Denken und Handeln war ebenso rätselhaft wie ihre märchenhafte Schönheit.
    Nach Minuten, in denen ich schweigend neben ihr ging, ohne einen Gedanken an hungrige Wölfe oder andere Gefahren der Wälder zu verschwenden, sah sie mich von der Seite an.
    »Sie halten mich für ein Ungeheuer, nicht wahr?«
    Trotz der Entfernung drangen noch immer die gedämpften Schreie des Kutschers an mein Ohr. Ich zuckte mit den Schultern. »Sie stammen aus einer anderen Kultur.« Das war sehr, sehr diplomatisch.
    »Ach, kommen Sie. Schmerz wird überall auf die gleiche Art empfunden. Uns unterscheidet nur, wie wir damit umgehen.«
    »Sie haben sich aufs Zufügen verlegt. Das macht den Umgang damit in der Tat sehr viel leichter.«
    Ich erwartete, dass sie beleidigt auffahren würde. Sie aber sagte: »Den Schmerz zu geben statt zu empfangen weist uns unseren Platz im Leben. Und trotzdem spielt es uns seine Streiche. Wir alle müssen kämpfen, um dagegen zu bestehen.«
    »Sie werden pathetisch.«
    Sie betrachtete mich eingehend. »Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
    »Nichts, gar nichts. Wahrscheinlich ist genau das der Unterschied zwischen Ihrem Volk und meinem. Wir haben verlernt, mit dem Pathos zu leben. Sie haben es umarmt und handeln danach.«
    Der Boden stieg allmählich an, und wenig später standen wir auf einer baumlosen Hügelkuppe. Jade nahm ihren Überwurf von den Schultern und breitete ihn im Schnee aus. Dann ließ sie sich im Schneidersitz darauf nieder.
    »Setzen Sie sich«, bat sie und deutete auf den freigebliebenen Platz auf dem Fell.
    Ich zögerte einen Augenblick, dann erfüllte ich ihr den Wunsch. Es fehlte nicht viel, und unsere Beine hätten sich berührt.
    Jade legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf zu den Sternen. Die Sonne war während unseres Weges untergegangen. Winzige Lichttupfen sprenkelten den klaren schwarzen Nachthimmel.
    »Sehen Sie den da?«, fragte sie und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger über sich.
    »Den Polarstern?«
    »Ja, so nennen Sie ihn wohl.«
    »Was ist damit?«
    »Bei uns trägt er den Namen Dhruva. Es gibt eine Legende um diesen Stern. Möchten Sie sie hören?«
    »Warum nicht?«
    Jade badete ihre Züge im weißen Sternenlicht. »Einst lebte ein König, der hatte zwei Frauen. Die ältere hieß Suniti, und sie gebar ihm einen Sohn, den sie Dhruva nannten. Die jüngere Frau des Königs aber war von göttlicher Schönheit. Jeder Mann, der ihrer angesichtig wurde, verfiel

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