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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mag, ist tatsächlich doch die größte Gunst, die ein Gott einem Menschen gewähren kann. Das Geschenk der Unsterblichkeit, ein Dasein in ewiger Liebe.«
    »Vishnu hat Dhruva die Kindheit gestohlen, sogar das Menschsein. Nennen Sie das ein Geschenk?«
    »Die Entscheidung des Gottes ist nur auf den ersten Blick furchtbar. In Wirklichkeit wurde sie allein zu Dhruvas Bestem gefällt. Und das Kind wusste sie zu akzeptieren.«
    Ich starrte sie mit leichenbitterer Miene an. »Sie wollen nicht etwa mit einem Märchen Jakobs Verhalten rechtfertigen?«
    »Kein Märchen«, widersprach sie sanft. »Eine Geschichte von den Göttern. Darin liegt große Wahrheit.«
    »Mit Wahrheit meinen Sie Moral, nicht wahr? Aber welche Moral liegt in einem Verrat?«
    »Dass selbst der schlimmste Fehltritt zwei Seiten besitzt, eine schlechte, aber auch eine gute.«
    Ich betrachtete ihren schlanken braunen Hals, an dem eine feine Ader pulsierte. Dann die Wölbung ihrer Brüste unter dem weißen Hemdchen. Den zarten, nackten Bauchnabel. Sie hatte kaum eine Gänsehaut. Dabei hätte sie doch zittern müssen vor Kälte.
    »Haben Sie auch Jakob diese Geschichte erzählt?«, fragte ich, ein wenig unsicher geworden.
    »Das war nicht nötig. Er hat meine Argumente angehört und hat sie verstanden. Ich konnte ihn auch ohne die Hilfe der Götter überzeugen.«
    »Sie haben ihn verführt und gefügig gemacht.«
    Sie hob überrascht die Augenbrauen. »Glauben Sie wirklich, dass es dessen bedurfte? Glauben Sie, Ihr Bruder hätte Sie hintergangen als Dank für meine … Zuneigung?«
    Ich blickte zu Boden. »Ich weiß es nicht.«
    »Sie haben kein gutes Bild von Ihrem Bruder. Das wundert mich.«
    »Versuchen Sie nicht, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.«
    »Ihr Bruder hat getan, was er für richtig hielt.«
    »Davon bin ich überzeugt.«
    »Werden Sie Ihre Vorbehalte zurückstellen und mir zuhören? Wirklich zuhören, meine ich?«
    Ich sah auf ihre verschränkten Finger, die flink miteinander spielten wie kleine Kätzchen. Lange, sehr zierliche Finger. Mir fiel auf, das alles an ihr zueinander passte. Schöne Frauen haben trotz allem ihre winzigen Schwächen, Teile ihres Körpers, die nicht ihrer übrigen Anmut entsprechen. Bei Jade war das anders. Ihre Finger und Füße waren ebenso vollendet wie das schmale Gesicht, das herrliche lange Haar, ihre Augen, ihre Lippen. Vielleicht hatte Vishnu nicht nur Dhruva die Vollkommenheit geschenkt.
    »Ich werde Ihnen zuhören«, sagte ich langsam.
    Damit war sie zufrieden und nickte bedächtig. »Wie lange ist es her, dass Napoleon die Macht über Ihr Land an sich riss?«
    »Etwa sechseinhalb Jahre. Damals schlug er bei Jena das preußische Heer.«
    »Aber damit gab er sich nicht zufrieden. Seine Armeen zogen weiter gen Osten. Nach Russland.«
    »Erst im letzten Jahr.«
    Jade streckte das rechte Bein aus. Dabei berührten ihre Zehenspitzen einen winzigen Augenblick lang meinen Oberschenkel, ganz sanft. Ihr seidenes Hosenbein rutschte ein wenig höher und entblößte ihre Fessel. Ich gab mir alle Mühe, nicht hinzusehen.
    »Moskau aber war nicht das kühnste seiner Ziele«, sagte sie. »In Wahrheit wollte er von dort aus weiter ins Innere Asiens vordringen.«
    »Tatsächlich?«
    »Meine Heimat mag aus Ihrer Sicht am Ende der Welt liegen, aber wir verfügen über tüchtige Spione wie jedes andere Land der Erde. Dabei hätte es ihrer nicht einmal bedurft, um Napoleons Streben zu durchschauen. Er hat es mehr als einmal offen kundgetan.«
    »Er wollte nach Indien?«
    Sie nickte feierlich. »Aber ja doch. Sein Vorbild ist Alexander von Mazedonien. Auch ihm ist es gelungen, mit seinem Heer den Ganges zu erreichen, und es ist Bonapartes größter Wunsch, es ihm gleichzutun.«
    Ich dachte nach. »Das hätte auch einen praktischen Sinn, denn ein Einfall der Franzosen in Indien würde die Handelsmacht Englands empfindlich schwächen.«
    »Mehr als das. Das britische Imperium, das Gebäude seiner Kolonien, käme zum Einsturz.«
    »Dann ginge es dem Kaiser darum, den Engländern zu schaden, indem er Ihr Land in Besitz nähme. Tragisch für ihn, dass er bereits in Russland gescheitert ist.«
    Jade lächelte, aber es wirkte verbissen. »In der Tat ist Indien vorerst vor ihm sicher. Aber eigentlich ist es nicht das, um was es geht. Die Wahrheit ist sehr viel bedeutsamer.«
    »Bedeutsamer als die Freiheit Ihrer Heimat?«, fragte ich erstaunt.
    »Um ein Vielfaches sogar. Napoleon wollte nach Indien, das steht fest. Zweifelhaft aber

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