Die Winterprinzessin
sind seine Motive. Die Schwächung Englands mag ein gutes Argument gewesen sein, als er seine Heerführer von dieser Idee überzeugte. Er sandte seinen Konsul in geheimer Mission nach Syrien und Ägypten, um zu erkunden, ob es möglich sei, von dort einen Vorstoß zu unternehmen. Geplant war, von mehreren Seiten in mein Land einzufallen, und selbst ein Napoleon muss Unternehmungen dieser Größenordnung vor anderen rechtfertigen, mag er von deren Einwänden letztlich halten, was er will. Er weiß genau, dass nichts wichtiger ist als die innere Überzeugung seiner Untergebenen, ihr Glaube an die Sache. Und um das zu erreichen, kam ihm die Begründung vom indirekten Schlag gegen England sehr gelegen.«
Verloren wanderte mein Blick über ihre feinen Züge. »Sie wollen damit sagen, dass er insgeheim einen ganz anderen Grund hatte?«
»Allerdings. Und der beschäftigt ihn schon lange. Bereits vor vierzehn Jahren war er erstmals nahe daran, einen Marsch nach Indien zu wagen, doch dann sah er sich gezwungen, die Belagerung der Festung Akka in Syrien aufzugeben und sich nach Ägypten zurückzuziehen. Damit hatte er ein Standbein verloren und musste die Ausführung seines Planes um mehrere Jahre verschieben.«
Ich war verblüfft, wie gut sie sich in den Feinheiten europäischer Geschichte auskannte. Umso mehr, als sie, wie sie es ausgedrückt hatte, am Ende der Welt aufgewachsen war. Ich würde mein Bild von barbarischen Stämmen und Götzendienern gründlich revidieren müssen.
»Was aber suchte er in Indien?«, fragte ich unschuldig.
Sie neigte verlegen den Kopf, als wage sie kaum, es auszusprechen. »Die Amrita-Kumbha«, sagte sie leise.
» Die was.« Ich starrte sie voller Verwunderung an, gründlich verwirrt und fast ein wenig belustigt.
Sie hob den Blick und sah mir trotzig in die Augen. »Die Amrita-Kumbha ist ein Heiligtum, das in einem geheimen Tempel Rajipurs aufbewahrt wurde, im Machtbereich meines Vaters. Napoleon wusste schon lange davon, und er hoffte sie eines Tages zu besitzen.«
Ich gestattete mir ein leises Hüsteln. »Verzeihen Sie, Prinzessin, aber wollen Sie mir weismachen, Napoleon sei in Russland einmarschiert, habe Zehntausende von Soldaten in den Tod geschickt und sich selbst fast dazu, all das, um in den Besitz irgendeiner Götzenstatue zu gelangen?«
»Lachen Sie mich nur aus«, entgegnete sie finster. An ihrer Schläfe schwoll eine Ader, ein Zeichen ihres Ärgers. »Die Amrita-Kumbha ist keine Götzenstatue. Aber sie ist heilig und älter als die Götter selbst.«
»Wie der Heilige Gral?« Ich zwang mich, ernst zu bleiben.
»Noch älter – und wichtiger. Man erzählt sich, die Welt wurde erschaffen, als die Götter den Urozean aufschäumten. Vom Meeresgrund wurden dabei viele Schätze hochgewirbelt und an die Oberfläche getragen. Einer war Kamadhenu, die Wunschkuh, welche die Träume ihrer Besitzer erkennt und zu Wirklichkeit werden lässt. Auch Lakshemi kam zum Vorschein, die Vishnu zu seiner Frau nahm. Aber der größte Schatz von allen war die Amrita-Kumbha.«
Natürlich glaubte ich ihr kein Wort, ich fand die Sache sogar überaus lächerlich, aber ich entschied mich, meine Überzeugung fürs Erste für mich zu behalten.
Nach einem Moment des Schweigens fragte ich: »Und welche Rolle spielt bei alledem der badische Erbprinz? Zumal Napoleon doch gar nicht bis Indien vorgestoßen ist?«
»Sein Heer ist es nicht«, verbesserte sie. Wieder streifte ihr Fuß mein Bein, und diesmal blieb die Berührung bestehen. Es war keine Absicht, trotzdem fuhr mir der sanfte Stoß bis hinauf in die Haarspitzen, und plötzlich war auch mir nicht mehr kalt.
»Napoleons Armee wurde zwar in Russland geschlagen«, fuhr sie fort, »doch seit Jahren schon durchstreifen seine Spione meine Heimat, und viele haben versucht, den Aufenthaltsort der Amrita-Kumbha herauszufinden. Vor etwa einem Jahr ist es dreien von ihnen gelungen. Sie benötigten viele Wochen, um ins Innere des Tempels vorzustoßen, und dann taten sie das Unfassbare: Sie brachten das Heiligtum in ihren Besitz und flohen damit quer durchs Land. Meinen Brüdern gelang es, zwei von ihnen zu töten. Doch der dritte, jener, der die Amrita-Kumbha trug, konnte entkommen. Bis ins gefallene Moskau führte ihn sein Weg, wo er an seinen Wunden verreckte. Dort nahm der Kaiser selbst das Heiligtum entgegen, und sogleich beschloss er, Russland zu verlassen und es in seine Heimat, nach Paris, zu schaffen.«
Das Einzige, was davon sinnvoll klang, war
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