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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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keine Christin, nicht wahr?«
    »Ja und nein. Es ist den Missionaren nie gelungen, den alten Glauben aus den Herzen der Menschen zu vertreiben. Mochten meine Ahnen auch laut zur Heiligen Dreifaltigkeit beten, in Wahrheit waren ihre Gedanken doch bei Dattatreya, der hinduistischen Trinität. So kommt es, dass in uns, ihren Nachkommen, ein wenig von beiden Seiten steckt. Wir verneigen uns vor der Jungfrau Maria ebenso wie vor Vishnu oder Devi Uma. Freilich gilt das nicht für alle meine Brüder und Schwestern.«
    Ein Ast, den sie zur Seite gebogen hatte, knallte mit schmerzhafter Wucht auf meine Wange. Ich aber schwieg, um sie nicht zu unterbrechen.
    »Die Jesuiten drangen immer tiefer in unser Land vor, und einige beschlossen, hoch oben im Norden einen eigenen Staat zu gründen. Sie nannten ihn Catay, nach einem sagenumwobenen Land, von dem unsere Mythen berichten. Eine Weile ging alles gut, meine Brüder und Schwestern unterwarfen sich der jesuitischen Herrschaft, denn die Mönche waren gute Menschen, die die Menschen mit Gesang und Gebeten regierten. Zudem lag Catay so weit abseits der bekannten Routen, dass auch die britischen Kolonialherren die Mönche ganz nach ihrem Gutdünken walten ließen.«
    »Etwas Ähnliches gab es in Südamerika«, erinnerte ich mich. »Dort gründeten Jesuiten ein Land namens Paraguay. Als sie sich weigerten, hohe Abgaben an die Kolonialherren zu zahlen, zerschlug man ihre Macht mit Waffengewalt, tötete viele der Mönche, versklavte die Eingeborenen und sprach schließlich auch in Europa die Acht über den Orden aus. Doch das ist lange her, mehr als zweihundert Jahre.«
    »Ich hörte, in England wurden noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts Jesuiten gejagt und auf Scheiterhaufen verbrannt.« Jade hob die Schultern. »Wie auch immer. Tatsache ist, dass die Entwicklung Catays einen anderen Verlauf nahm, als sich die braven Gründer dies vorgestellt hatten. Der schwarze Kult der Kali und anderer Dämonen hielt Einzug, und es kam zu einem entsetzlichen Massaker an den Mönchen und ihren Getreuen. Daraufhin glaubte man, das Dschungelreich Catay sei zerschlagen, und niemand kümmerte sich mehr um die abgelegene Region im Norden. Doch im Verborgenen ging aus der Asche Catays eine neue Macht hervor, ein grauenvoller Mischkult, eine Spottgeburt aus der dunklen Seite des Christentums mit seiner gestrengen Hierarchie und den schrecklichen Religionen der niederen Kasten. Die Überlebenden der Jesuiten mischten ihr Blut mit dem Abschaum meines Volkes, mit Mordgesindel und Götzendienern, und mit jeder neuen Generation wurde die schwarze Macht Catays größer und gefährlicher.«
    »Ich habe nie davon gehört«, gestand ich mit einem Schaudern.
    »Wie auch? Die Angst der umliegenden Stämme wurde eines Tages übermächtig, und die Fürsten der benachbarten Gegenden schlossen sich zusammen. Darunter waren auch Ahnen meines Vaters. Gemeinsam rüsteten sie eine Armee, um der Tyrannei Catays ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.«
    »Wann war das?«
    »Vor nicht ganz hundert Jahren. Unbeschreiblich war das Bild, das sich meinen Vorvätern und ihren Verbündeten bot, als sie die Dschungeltempel Catays erstürmten. Von den Bäumen und Dächern hingen noch die Kadaver der Götzenopfer, und in ihrem Blut suhlte sich die Kinderbrut Catays Seite an Seite mit wilden Hunden und anderem Gezücht. Die Hohenpriester hatten ihren Untertanen befohlen, ihrem verkommenen Leben selbst ein Ende zu setzen, sobald die Feinde die Wälle stürmten, und genau das war geschehen. Endlos war das Meer der Leichen auf den Straßen, und allein die Hohenpriester, Nachkommen der einstigen Missionare, waren noch am Leben. Viele wurden hingerichtet, doch manchen gelang auch die Flucht. Sie entkamen in die Tiefe der Wälder, und jene, die nicht den Tieren zum Opfer fielen, suchten sich neue Gefolgschaft und verbreiteten die böse Religion Catays in den unteren Kasten des ganzen Landes. Und obgleich ihre Zahl gering war, hatte der Überfall auf Catay doch das genaue Gegenteil seines eigentlichen Zwecks zur Folge: Statt den Kult für immer aus der Geschichte zu brennen, hatten meine Vorfahren trotz bester Absichten bewirkt, dass seine Saat sich noch weiter verstreute. Der Glaube Catays lebte fort, er existiert auch heute noch, und seine Oberhäupter übertreffen die einstigen Hohenpriester des Landes noch an Schändlichkeit und Tücke.«
    Furchtsam starrte ich hinaus ins finstere Dickicht. Irgendwo schrie eine einsame Krähe, die unser

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