Die Winterprinzessin
die Erfahrung.«
»Irgendetwas ist geschehen. Da – hören Sie doch!«
Ich hörte es tatsächlich, ganz, ganz leise nur. Ein Hauch von Säbelrasseln. Die Ruine musste viel weiter vor uns liegen, als ich aufgrund von Jades Vorsicht angenommen hatte.
»Wer kämpft da?«, fragte ich bange.
»Mir wäre wohler, wenn ich eine Antwort wüsste.«
Damit setzte sie sich wieder in Bewegung, doch viel leiser als zuvor. Trotzdem konnte selbst sie nicht verhindern, dass die Äste unter ihren Füßen knackten. Sie hatte keine Waffen dabei, und mir behagte der Gedanke keineswegs, wehrlos in einen Kampf zu stolpern.
Schließlich schob sich der kantige Umriss der Abteiruine aus der Dunkelheit. Vor dem Sternenhimmel wirkte sie viel größer und bedrohlicher als zuvor. Der Kirchturm wies wie ein heidnisches Mahnmal in die Nacht. Noch immer ertönte das Klirren der Klingen, doch der Kampf musste auf der anderen Seite der Gebäude stattfinden, davor war nichts zu sehen.
»Kommen Sie, schnell!«, zischte Jade mir zu, dann rannten wir Seite an Seite über die freie Fläche vor der Abtei und verharrten erst wieder, als wir die Mauern erreichten.
»Gehen wir außen herum oder durch die Ruinen?«, fragte ich.
Sie schenkte mir ein flüchtiges Lächeln. »Freut mich, dass Sie überhaupt mitkommen wollen.«
»Wofür halten Sie mich?«
»Für – nun, für einen Gelehrten.«
»Sie betonen das so eigenartig.«
Noch ein Lächeln. »Wir müssen weiter. Quer durchs Gebäude scheint mir am sichersten und schnellsten.«
Wir liefen in die Eingangshalle. Sie war leer. Von dort aus ging es einen Gang hinunter, an kahlen, ausgebrannten Kammern vorüber. Immer wieder stolperte ich über Bruchstücke der eingestürzten Decke und verkohlte Balkenreste. Dann, ein Hinterzimmer. Am Boden, unweit einer ausglühenden Feuerstelle, lag ein Körper, in der Finsternis kaum mehr als ein Scherenschnitt. Als wir näher kamen, erkannte ich Gerard. Er war tot. Man hatte ihm die Kleider vom Leib gerissen und seine Hände auf den Rücken gefesselt. Seine Züge glänzten feucht und rot.
»Großer Gott!«, entfuhr es mir viel zu laut. »Sie … Sie haben ihm die Haut vom Gesicht gerissen!«
Jade schüttelte hastig den Kopf. »Das waren nicht meine Männer. Dazu hatten sie keinen Befehl.«
Zweifelnd und immer noch von Grauen gepackt starrte ich sie an. »Das ist unmenschlich!«
»Wenn ich Ihnen doch sage, dass das nicht meine Leute waren! Ihre Methoden sind sehr viel subtiler.«
»Subtile Folter?«, stieß ich aus. »Eure Hoheit belieben zu scherzen.«
Sie ergriff meinen Arm und zog mich zu einer der leeren Fensterhöhlen, die zur Rückseite wiesen. »Ich schwöre Ihnen bei Vishnu und Jesus Christus, dass wir mit diesen Wunden nichts zu tun haben. Reicht Ihnen das?«
Ich nahm an, sie bezöge die letzten Worte auf ihren Schwur, doch dann folgte mein Blick dem ihren, und ich begriff, was sie wirklich meinte. Auf dem verschneiten Streifen zwischen Ruine und Waldrand kämpften zwei Männer. Der eine war Kala, ein Wirbel aus weitem Stoff und dunklen Gliedern. Er führte den Madu mit beiden Händen. Die Eisenspitzen an den Antilopenhörnern funkelten, als er die Waffe rotieren ließ. Ein glühender Kreis entstand in der Nacht.
Der zweite Kämpfer war Stanhope. Er hatte einen Säbel in der Hand und verwickelte den alten Fakir in eine blitzschnelle Folge aus Hieben und Stichen. Kala blieb nichts, als sich der Attacken des Lords mit dem kreisenden Madu zu erwehren, denn zu eigenen Angriffen blieb ihm keine Zeit. Es war nur zu deutlich, wer der Überlegenere war. Bald schon musste Kalas Verteidigung unter den wütenden Vorstößen Stanhopes zerbrechen.
In einiger Entfernung des stürmischen Duells lagen die Leichen der beiden anderen Inder im Schnee. Kala war der letzte lebende Getreue der Prinzessin.
»Gehen Sie raus und lenken Sie ihn ab«, flüsterte sie mir zu.
Verblüfft starrte ich sie an. »Ich? Wieso?« War nicht Stanhope mein Verbündeter? Oder hatten die vergangenen Stunden das Blatt gewendet? War ich längst übergelaufen, ohne es zu bemerken?
»Lenken Sie ihn ab«, wiederholte sie in schärferem Tonfall. »Oder wollen Sie enden wie der da?« Sie deutete auf das gehäutete Gesicht des Kutschers.
»Aber – «
Weiter kam ich nicht, denn Jade gab mir einen Stoß, der mich halb durch das Fenster taumeln ließ.
»Gehen Sie!«, befahl sie.
Was blieb mir übrig? Ich turnte über die Brüstung hinweg und sprang hinaus in den Schnee. Eiligen Schrittes
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