Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Marsch durch den Wald aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein Uhu gab Antwort. Jades Bericht von vergessenen Dschungeltempeln und Menschenopfern tat ein Übriges, mir die Dunkelheit gründlich zu verleiden.
    »Sie wollen damit sagen, die Odiyan sind Anhänger dieses Teufelskultes?«, fragte ich.
    »Ja«, entgegnete sie über die Schulter. »Die Odiyan rekrutieren sich aus den minderen Kasten, und dort war der schwarze Kult Catays seit jeher am mächtigsten.«
    »Was wurde aus den Priestern?«
    »Viele blieben in Indien und den angrenzenden Ländern. Dort mag es leichter sein, treue Anhänger zu finden. Andere zogen hinaus in die Welt, manche von ihnen gründeten anderswo neue Zirkel, einige blieben allein und dienten ihre Talente und ihre Grausamkeit fremden Herrschern an. Sie sind wie Söldner, aber um ein Vielfaches schrecklicher, da sie nur jenen dienen, deren Ziele den ihren ähneln. Kein Priester Catays wird sich nur um des Geldes willen einem anderen Herrn verschreiben. Sein Lohn muss schwerer wiegen als Gold.«
    Ich schwieg eine Weile, dann sagte ich: »Drei von ihnen waren im Schloss. Sie geben sich als Jesuiten aus und sind über und über mit Bibelversen tätowiert.«
    Jade nickte. »Das sind sie. Sie sind die Meister der Odiyan.«
    »Warum aber wagten sie sich ins Schloss? Ich sah sie in einer Audienz beim Großherzog persönlich.«
    »Sie mögen es auf vielen Wegen versuchen«, sagte sie schulterzuckend. »Die Priester Catays – oder besser: ihre Nachkommen, denn manche von ihnen haben Indien nie mit eigenen Augen gesehen – sind nicht dumm. Einige haben flinke Zungen, und sie sind im Reden ebenso gewandt wie im Umgang mit der Klinge. Sich als Jesuiten auszugeben liegt gleichfalls nahe, denn vergessen Sie nicht, auch in ihnen wurzelt die Lehre des Christentums, und sie sind in mancher Hinsicht durchaus gottesfürchtig. Sie befolgen nicht die christlichen Gesetze, aber sie fürchten den Zorn und die Strafen Jahwes.«
    »Und diese Priester Catays streben nach dem Heiligtum, von dem Sie sprachen.«
    »So muss es sein«, bestätigte Jade. »Sie haben einen Gefolgsmann meines Vaters zum Verrat gezwungen und so von der geplanten Entführung des Erbprinzen erfahren. Sie versuchten, mir zuvorzukommen, doch stattdessen trafen wir uns hier fern unserer Heimat wieder und kämpfen nun auf unterschiedlichen Seiten um den gleichen Schatz.« Ihre letzten Worte klangen beinahe ein wenig traurig. »Ich fürchte, Ihnen muss das Ganze recht absurd erscheinen, nicht wahr? Wilde Barbaren, die in Ihr beschauliches Land einfallen und einen Krieg um ein Heiligtum führen, das niemandem hier etwas bedeutet.«
    »Außer dem Kaiser.«
    »Außer ihm, ja.«
    »Aber Sie sind keine Barbarin«, widersprach ich.
    Sie lachte leise auf. »Nicht? Aber, aber, Herr Grimm! Muss es auf Sie nicht barbarisch wirken, wenn ein Mädchen von Kind an durch Lehrer in die Geheimnisse der körperlichen Liebe eingeweiht wird? Nur damit sie später ihren Gatten mit dieser Kunst erfreuen kann? Ich glaube kaum, dass Sie das für zivilisiert halten.« Und amüsiert fügte sie hinzu: »Wenngleich Sie es im Nachhinein sicher zu schätzen wissen.«
    Ich muss puterrot geworden sein in der Finsternis. »Es ist in der Tat außergewöhnlich«, erwiderte ich hilflos.
    Ihr Lachen klang hell und verspielt. »Ach, Herr Grimm. Sie sind so herrlich korrekt.«
    »Wie, bitte, soll ich das verstehen?«
    Abrupt blieb sie im selben Augenblick stehen.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Psst«, machte sie und legte den Finger an die Lippen. Und dann, fast lautlos, fügte sie hinzu: »Dort vorne ist die Ruine. Aber etwas stimmt nicht. Der Kutscher hat aufgehört zu schreien.«
    Die Erinnerung an seine Folter war wie ein eisiger Wasserguss. Mit einem Mal war da wieder ein Teil der Prinzessin, den ich zuletzt völlig verdrängt hatte. Sie war wieder dieselbe Frau, die die Marter eines Unschuldigen angeordnet hatte.
    »Vielleicht ist er tot?«, meinte ich schaudernd. »Oder Ihre Krieger haben ihm die Nacht über Ruhe gegönnt. Mag sein, dass er das Geheimnis längst verraten hat.«
    Sie schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Dunkelheit vor uns abzuwenden. Ich sah dort weder die Ruine noch sonst irgendetwas, nur Schwärze.
    »Meine Männer hätten ihn niemals ohne meinen Befehl getötet«, sagte sie. »Und Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein persönlicher Diener des Kaisers nach nur einem Tag ein ihm anvertrautes Geheimnis preisgeben würde.«
    »Glücklicherweise fehlt mir damit

Weitere Kostenlose Bücher