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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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man größere Gesteinsblöcke aus dem Berg gehauen hatte. Sie bildete den Grund eines kraterförmigen Talkessels, an der Südseite von der Felswand überragt, im Westen, Osten und Norden von niedrigeren Steinwällen eingefasst. In einem von ihnen klaffte wie der Schwertstreich eines Titanen eine Schneise, einst wohl der Weg zum Abtransport der Blöcke. Der gesamte Steinbruch mochte gut und gerne einen Durchmesser von sechstausend Fuß haben, ein gespenstisches Schandmal inmitten der wuchernden Bergwälder. Und dass der Kessel so verlassen war, die Schneedecke so unberührt, verstärkte nur das Gefühl des Unwirklichen.
    »Dort unten liegt unser Ziel?«, wandte ich mich zweifelnd an Dalberg, während wir die Pferde am Felskamm entlang nach Westen führten, dorthin, wo unser Abstieg in die Tiefe begann.
    Der Minister nickte. »Sehen Sie genau hin, dann entdecken Sie es vielleicht.«
    Ich hatte wenig Lust, mich auf seine Spielchen einzulassen, daher sagte ich: »Was entdecke ich dann?«
    »Das Haus«, gab er zur Antwort.
    Suchend ließ ich meinen Blick durch den Steinbruch schweifen, auch noch darüber hinaus, wo im Norden die Berge des Odenwaldes im düsteren Grau des Himmels verschwammen.
    »Ich sehe nichts«, sagte ich resigniert.
    Dalberg lächelte. »Das ist Sinn und Zweck der Sache, nicht wahr? Sonst wäre es kaum ein Versteck. Sie müssten schon sehr gründlich danach suchen, wenigstens von hier aus. Aber haben Sie ein wenig Geduld. Es läuft uns nicht davon.«
    Wir gelangten an einen gewaltigen Felsbrocken, der kühn auf der Steinkante lag und aussah, als müsste er jeden Augenblick aus dem Gleichgewicht geraten und krachend in die Tiefe stürzen. Ich betrachtete ihn mit einiger Skepsis, führte doch gleich dahinter der Weg hinab in den Kessel. Der Fels mochte die Rinne hinunter und genau über uns hinwegdonnern. Überhaupt war Dalbergs Weg eine Zumutung, steil und kaum breit genug für ein Pferd, schnitt er gezackt wie ein Blitz durch das braun-gelbe Gestein. Der Boden war mit Geröll bedeckt, was den Abstieg umso gefährlicher machte.
    »Es sieht schlimmer aus, als es ist«, munterte Dalberg uns auf, denn auch einige der Soldaten zogen lange Gesichter.
    »Warum nehmen wir nicht einfach die Straße dort unten?«, fragte ich und deutete auf den Einschnitt auf der anderen Seite des Steinbruchs.
    Der Minister schüttelte den Kopf. »Wir müssten einen zu großen Bogen schlagen und würden fast einen Tag verlieren, um dorthin zu gelangen. Nein, meine Herren, so Leid es mir tut: Dies ist der Weg, den wir gehen müssen.«
    Stiller unterstrich Dalbergs Worte mit einem Donnerwetter gebrüllter Befehle und Zurechtweisungen an seine Soldaten, sie hätten sich gefälligst nicht wie Waschweiber aufzuführen. Mir war klar, dass er mich und Jakob in den Kreis der Gescholtenen einbezog, obgleich er uns während seines Geschreis mit keinem Blick würdigte.
    Der Rittmeister wusste, was er seinen Männern als deren Vorgesetzter schuldig war, und so nahm er es auf sich, den Anfang zu machen. Ohne Zögern und betont gelassen trat er um den Felsbrocken und begann mit dem Abstieg. Sein Pferd führte er hinter sich am Zügel. Das Tier schien angesichts der schwindelnden Höhe einen Moment lang zu scheuen, dann aber folgte es seinem Herrn gehorsam den verschneiten Geröllpfad hinab.
    Dalberg ging als Zweiter, sichtlich beunruhigt und mit sorgenvollen Zügen. Hinter ihm folgten zwei Soldaten und ihre Rösser, Jakob und ich gingen an fünfter und sechster Stelle. Die übrigen Soldaten kamen in einigem Abstand hinterher.
    Ich bemühte mich, nur auf meine Füße zu schauen. Angstschweiß brach mir aus allen Poren. Erstaunlicherweise blieb mein Pferd viel ruhiger als ich selbst; sogar als seine Hinterhufe für einen Augenblick lang ins Rutschen gerieten, fand es gleich zurück zu bravem Trott.
    Ein einziges Mal nur blickte ich zurück, hinauf zu dem gigantischen Felsbrocken, der wie ein Damoklesschwert über unserem Abstieg schwebte. Wenn Stanhope uns nun aufgelauert hatte? Wenn er nur darauf gewartet hatte, dem Felsen einen Stoß zu geben, damit er uns unter sich zermalmte?
    Aber nein, zwei Tage lang würde er nicht auf der Lauer liegen. Zu viel stand auf dem Spiel, zu kostbar war jede Minute.
    Obwohl doch keiner es erwartet hatte, erreichten wir nach über einer Stunde wohlbehalten den Fuß der Felsen. Niemand war gestürzt, keiner hatte sich verletzt, abgesehen von ein paar belanglosen Schürfwunden an Knien und Ellbogen. Selbst die

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