Die Winterprinzessin
diesen Breiten ein Waldstück wie das andere aus. Dennoch gelang es mir, Dalberg die ungefähre Lage des Ortes zu entlocken. »Im Odenwald«, sagte er kurz angebunden, und dem, was er leise mit Stiller besprach, entnahm ich, dass wir uns irgendwo westlich von Mannheim befanden, in jenen Regionen rechts des Rheines, wo es keine größeren Städte gibt und die Dörfer so vereinsamt in tiefen Tälern liegen, dass eines kaum vom anderen weiß.
Wohl gab es hier recht hohe Berge, die auf schmalen Wegen umritten werden wollten, ein langwieriges, ermüdendes Getrappel unter bedrohlichen Felsüberhängen, entlang dunkler Hohlwege und verwunschener, lichtloser Talgründe. Am frühen Morgen hatten wir den Neckar überquert und von einem alten Fährmann erfahren, dass sich zwei Tage zuvor ein Mann, auf den Stanhopes Beschreibung passte, von ihm hatte übersetzen lassen. Die Worte des Alten bestätigten unsere ärgsten Befürchtungen, gaben aber auch neue Hoffnung, denn der Vorsprung des Lords hätte eigentlich volle vier statt nur zwei Tage betragen müssen. Offenbar hielt er seinen Vorsprung für groß genug, dass er sich angesichts des Wetters nicht übertrieben beeilen musste.
Am anderen Flussufer hieß es erneut, bewaldete Bergflanken zu erklimmen, Felsen und unwegsame Höhen zu umrunden und immerzu mit der Gefahr zu leben, einer der berüchtigten Räuberbanden des Odenwaldes in die Hände zu fallen. Allein den bewaffneten Soldaten und ihren übellaunigen Mienen war es wohl zu verdanken, dass uns das Gesindel verschonte. Ein Wunder, wenn Stanhope als einzelner Reisender unbeschadet geblieben wäre. Wiewohl, zu hoffen, der Lord sei der Mordlust einiger Räuber zum Opfer gefallen, hätte die Sache ein wenig zu einfach gemacht.
Viel banger war mir hingegen um Jade, die – so sie uns tatsächlich folgte und die Erscheinung am Fenster kein bloßer Traum gewesen war – der Willkür des üblen Gelichters ausgeliefert schien. Nicht hilflos, keineswegs, denn ich hatte gesehen, dass sie focht wie ein Derwisch, doch war auch sie einer Übermacht in freiem Gelände schwerlich gewachsen.
Hin und wieder glaubte ich ein verdächtiges Rascheln wahrzunehmen, wie es ein Pferd im Unterholz verursachen mochte, ein-, zweimal auch meinte ich einen menschlichen Schatten gegen den Schnee zu sehen, doch niemand zeigte sich offen oder vertrat uns den Weg. Weder Stiller noch Dalberg brachte übermäßige Sorge zum Ausdruck.
Und dann, endlich, kamen wir zum Ziel.
Wir waren eine steile Anhöhe hinauf geritten, die dicht mit Fichten und Tannen bewachsen war. Unterm Dach der Nadelzweige lag der Schnee nicht ganz so hoch wie auf den spärlichen Pfaden, und dies mag der Grund gewesen sein, warum Dalberg uns mitten durch den dichten Forst geführt hatte. Nun aber kamen wir an eine Lichtung; zumindest hielt ich es zu Anfang dafür. Die Stämme rückten auseinander, und vor uns lag die Kuppe des Berges gänzlich unbewachsen, sofern die hohe Schneedecke eine solche Feststellung zuließ.
»Vorsicht!«, warnte Dalberg, als wir die Rösser eiliger vorwärts trieben. »Zügeln Sie die Pferde, sobald Sie den höchsten Punkt erreichen.«
So mysteriös mir diese Anweisung schien, so sehr war ich doch darauf bedacht, sie zu erfüllen. Und ich tat gut daran, wie ich wenig später mit Grausen entdeckte.
Jenseits der Bergkuppe war die Welt zu Ende.
Vor uns klaffte ein Abgrund, fünfzig, sechzig Schritte tief.
Der Wind klagte zwischen den Felsen und blies strudelnden Pulverschnee aus der Tiefe empor.
»Ein Steinbruch«, sagte Dalberg, nachdem wir die Tiere in einer Reihe unweit der Kante zum Stehen gebracht hatten. »Einer der größten im Lande, schon seit Jahrhunderten.«
»Der Odenwald ist berühmt für seinen ergiebigen Sandsteinabbau«, bemerkte Jakob nicht ohne Eitelkeit.
Dalberg schien ihn nicht gehört zu haben, oder aber er schenkte dem neunmalklugen Einwurf keine Beachtung. »Er liegt seit Jahrzehnten brach. Die wenigsten erinnern sich noch daran, und kaum jemand kommt hierher. Dort drüben« – er deutete mit ausgestrecktem Arm nach links – »führt ein schmaler Weg entlang der Felswand in die Tiefe. Seien Sie vorsichtig. Am besten steigen wir ab und führen die Pferde am Zügel.«
Stiller gab seinen Männern einen Wink. Die neun Soldaten schwangen sich wie eine Kette, die vom Zahnrad springt, aus den Sätteln. Wir anderen taten es ihnen gleich.
Am Fuße des Abgrunds befand sich eine künstliche Ebene, an einigen Stellen abgestuft, dort wo
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