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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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im Einschnitt zwischen den Felsen. Die vier Männer unter den Fenstern gingen in die Hocke und zielten auf die vergitterten Scheiben.
    »Ziehen Sie sich hinter die Felsen zurück«, wies der Rittmeister uns an und deutete auf ein paar grobkantige Brocken, kaum brusthoch, die unweit des Eingangs aus dem Schnee ragten.
    Jakob und ich taten wie geheißen und beobachteten von dort aus, was weiter geschah. Merkwürdigerweise spürte ich keine Furcht, nicht einmal Unruhe. So wenig ich von Stiller auch als Mensch hielt, so flößte mir seine grobschlächtige Art doch ein gewisses Vertrauen ein. Er wirkte wie jemand, der sehr genau wusste, was er tat.
    Er holte mit dem Fuß aus und trat unter erbärmlichem Getöse die Tür ein.
    Sogleich stürmten er und seine beiden Begleiter vor und verschwanden im Felsen. Die vier Schützen hockten völlig unbeweglich da.
    Aus dem Felsenhaus drangen Gepolter und der eine oder andere gebrüllte Befehl, doch was genau im Innern geschah, blieb mir verborgen. Weder Jakob noch ich sprachen ein Wort, starrten nur gespannt zur Tür hinüber. Beinahe erwartungsvoll horchte ich auf Schüsse von jenseits der Felsbarriere, aber dort blieb alles ruhig. Die Steinwand war an dieser Stelle knapp vier Mannslängen hoch, ihre Breite, und damit die mögliche Ausdehnung des Höhlenhauses, war von hier aus nicht zu erkennen.
    Einige Minuten vergingen, dann trat Stiller aus der Tür und schob seinen Säbel in die Scheide. »Sie können rauskommen, meine Herren!«, rief er zu uns herüber.
    Sosehr es mich auch zur Eile drängte, so betont ruhig trat ich doch hinter den Felsen hervor und ging zum Rittmeister und seinen Soldaten hinüber. Er brauchte nicht zu wissen, wie neugierig ich auf seine Entdeckungen war.
    Bevor er sich aber äußerte, wies er einen der Männer an, Dalberg und die Übrigen herbeizuholen. Erst als diese zurückgekehrt waren und keinerlei Vorkommnisse zu vermelden hatten, ergriff Stiller erneut das Wort: »Dort drinnen liegt eine Leiche«, sagte er. »Sie sollten das wissen, bevor Sie hineingehen.«
    Dalbergs Gesicht wechselte die Farbe. »Eine Leiche, sagen Sie? Wer ist es? So reden Sie doch!«
    Stiller hob die Schultern. »Eine Frau. Die Amme, nehme ich an.«
    Dalberg schob ihn beiseite. »Lassen Sie mich durch.«
    Und damit verschwand er im Haus. Jakob und ich folgten ihm unentschlossen.
    Sämtliche Räume waren aus dem gelben Sandstein geschlagen, und ein Großteil der Wände war mit dicken, wärmenden Stoffen verhängt. In jedem Zimmer gab es einen Ofen. Eine Speisekammer, deren offene Tür wir passierten, war bis zur Decke angefüllt mit gepökeltem Fleisch, mit Würsten, haltbarem Gemüse und Eingemachtem, mit Krügen und Eimern und Kübeln. Die Amme und der Prinz hatten hier offenbar überwintern sollen.
    Die Frau lag in einem der hinteren Zimmer, unweit einer Falltür im Boden. Ihr Hals war blau geschwollen, man hatte sie erdrosselt. Sie trug einen Fellmantel, darunter ein grobes Kleid. Auf ihrer Brust lag ein Geschlinge aus Decken und Gurten, in dem sie offenbar das Kind getragen hatte. Der Tod musste sie ereilt haben, als sie gerade versuchte, sich und den Prinzen durch den Geheimgang in Sicherheit zu bringen. Sie war noch nicht lange tot, denn es gab keine äußeren Anzeichen von Verfall. Vielleicht aber hatte sie das auch der Kälte zu verdanken, die nach Verlöschen der Öfen unerbittlich in die Felskammern gekrochen war.
    Stiller trat hinter uns ins Zimmer. »Von dem Kind gibt es keine Spur. Stanhope muss es mitgenommen haben. Einer der Schränke war zerwühlt, wahrscheinlich hat er in aller Eile Decken und Kleidung für den Kleinen zusammengerafft.«
    Dalberg kniete neben der Frau und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Tote. Seine Unterlippe bebte, als er sich schließlich umwandte, zu uns aufschaute und vier leise, tonlose Wörter hervorbrachte: »Sie ist es nicht.«
    Stillers Stirn legte sich in Falten. »Was meinen Sie?«
    Die Stimme des Ministers klang heiser, mit einer Hand fuhr er sich nervös über den Hinterkopf. »Das ist nicht die Amme, die mit dem Prinzen hierher gesandt wurde. Ich habe sie persönlich ausgewählt.«
    Stiller schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber sie sieht aus, als-«
    »Ja«, sagte Dalberg, »als hätte sie gerade mit dem Kind davonlaufen wollen. Und sie scheint sich auch schon länger hier aufgehalten zu haben. Sehen Sie!« Er hob einen Zipfel des Mantels und deutete auf das schlichte Hauskleid, das sie darunter trug. »Aber ich sage es

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