Die Winterprinzessin
Pferde hatten ihr Los mit Würde und Geschick getragen.
Stiller ließ nach einer fünfminütigen Rast wieder aufsitzen. Schon wollte er vorauspreschen, als Dalberg ihn mit einem Ruf zurückhielt.
»Geben Sie Acht, Rittmeister! Der Boden mag durch den Schnee ganz eben und ungefährlich aussehen, aber darunter könnte es unsichtbare Spalten und Löcher geben.« Die Worte des Ministers dämpften das allgemeine Hochgefühl nach dem geglückten Abstieg, und diesmal verzog selbst Stiller das Gesicht.
»Ihr habt es gehört!«, rief er seinen Soldaten zu.
Zögerlich ließen wir die Rösser vorwärts traben. Der Schnee war glatt und unberührt. Ich fragte mich, ob wir Stanhopes Spuren nicht hätten sehen müssen, wenn er vor zwei Tagen denselben Weg genommen hatte. Oder hatten die Schneefälle der vergangenen Nächte die Fährte überpudert? Ich beschloss, Dalberg danach zu fragen.
»Ich glaube nicht, dass Stanhope diesen Weg gewählt hat«, erwiderte der Minister und hielt sich dabei an meiner Seite. »Wenn der arme Gerard ihm das Versteck verraten hat, so kann er ihm nur jene Strecke beschrieben haben, die die Kutsche benutzt hätte.«
»Sie meinen also, Stanhope kennt die Straße, aber nicht den Abstieg durch die Felswand?«
»Ich bin ziemlich sicher, ja.«
»Das würde bedeuten, dass wir einen weiteren Tag aufgeholt hätten.«
»Ich will es hoffen.«
Demnach hatte der Lord noch einen Vorsprung von nur einem Tag.
Ich vergewisserte mich, dass keiner der Soldaten nahe genug war, um meine Worte mit anzuhören, dann fragte ich Dalberg: »Was, glauben Sie, wird Stanhope mit dem Kind tun, wenn es ihm in die Hände fällt?«
Der Minister stieß einen tief empfundenen Seufzer aus. Seine Stirn legte sich in sorgenvolle Falten. »Ich hätte in den letzten Nächten besser geschlafen, wenn ich eine Antwort auf diese Frage wüsste. Aber ich fürchte, solange wir nicht wissen, in wessen Auftrag er handelt, ist es müßig, Vermutungen anzustellen.«
Ich warf einen forschenden Blick zu Jakob hinüber, doch mein Bruder widmete sich gerade dem scheinbar Unmöglichen: Er bemühte sich, Stiller in eine Unterhaltung zu verwickeln. Die beiden ritten in einiger Entfernung vor uns, und so konnte ich nicht hören, was gesprochen wurde.
Zögernd wandte ich mich wieder an Dalberg. »Doktor Hadrian erwähnte, Stanhope stehe möglicherweise in einer Verbindung zum Quinternio der Großen Fragen. Ich weiß, Sie baten uns, diesen Begriff – «
»Nicht mehr zu erwähnen, allerdings«, fiel Dalberg mir eilig ins Wort. Er hatte seine Stimme zu einem unheilvollen Flüstern gesenkt. »Sehen Sie, vielleicht haben Sie es bemerkt, aber Hadrian … nun, er ist kein gesunder Mann.«
»Das war schwerlich zu übersehen.« Ich überlegte, ob ich ihm von der Schmetterlingskostümierung des Doktors erzählen sollte, ließ es aber bleiben, als ich mich an Dalbergs eigene Falterleidenschaft erinnerte. Es tat ohnehin nichts mehr zur Sache.
»Doktor Hadrian sieht gerne Gespenster«, fuhr der Minister fort. »Er ist lange schon nicht mehr das Genie, das er einst war. Aus irgendeinem Grund hat die Familie des Großherzogs einen Narren an ihm gefressen, gewährt ihm freie Unterkunft und betraute ihn sogar mit der Entbindung des Erbprinzen.« Er verzog den Mund zu einem schmerzlichen Lächeln. »Sicher können Sie sich die Erregung des Kaisers ausmalen, als er davon erfuhr. Er spielte sogar mit dem Gedanken, Hadrian den Prozess zu machen! Zum Glück kam das Kind gesund zur Welt, und Bonapartes Zorn verrauchte. Wissen Sie, die Leute beschwören immer wieder seine Unberechenbarkeit und vorschnellen Entscheidungen, aber sie übersehen, dass er manches davon gar nicht in die Tat umsetzt. Meist gehört wenig dazu, ihn zu besänftigen … aber wir sprachen von Hadrian.«
Er verfiel in Schweigen, und ich sah mich genötigt, ein vernehmliches »So ist es« anzufügen.
Dalberg hob die Augenbrauen, musterte mich auf schwer zu durchschauende Art und Weise, dann setzte er seine Rede fort: »Hadrian ist besessen von der Deutung imaginärer Zeichen und Symbole. In allem glaubt er Spuren großer Verschwörungen und Rätsel zu entdecken. Anfangs hielt ich es für harmlose Spinnerei, etwa wie die Farbenlehre Ihres Mentors.« Ich lächelte ob dieses Seitenhiebes auf Goethes umstrittenes Traktat, doch Dalberg blieb ernst. »Seit einigen Jahren wandelt sich Hadrians Wesen zum Schlechten, er zeigt einen gefährlichen Hang zur Selbstzerstörung. Ich stellte ihn zur Rede, aber
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