Die wir am meisten lieben - Roman
Charlie Chin, weil er kein Kinn hatte; die Hausmutter, weil sie walisisch war und böse, der »Drachen«, und Mr. Lawrence war Ducky oder die »Ente«. Tommy hatte noch nicht herausgefunden, warum. Niemand brauchte jedoch eine Erklärung für den Spitznamen von Mr. Brent. Seine hündischen Gesichtszüge und sein Ruf, die schlimmsten Prügel auszuteilen, sprachen |41| für sich. Sein Werkzeug der Wahl war ein roter, lederner Pantoffel mit einem harten Absatz, von dem man mindestens zwei Wochen lang blaue Flecken davontrug. Jeden Abend um acht Uhr, wenn er das Licht ausschalten kam, schlich er den Korridor entlang und hoffte, einen der Jungs bei einem Vergehen zu ertappen. Das konnte eine Kissenschlacht oder das Lesen eines Comics oder irgendeines anderen unerlaubten Buches sein.
In der fünften Nacht musste Tommy erkennen, dass die Verantwortung seines Postens als Schlafsaalwächter in der Tat Konsequenzen hatte.
Alle waren geschrubbt und energiegeladen aus dem Duschraum in den Schlafsaal zurückgekehrt. Dickie Jessop hielt Hof. Er verfügte über ein schier endloses Repertoire an schmutzigen Witzen und Reimen. Nur wenige, wenn überhaupt jemand, verstanden die sexuellen Anspielungen. Trotzdem lachten sie alle laut. Wenn man in diesen Dingen Unkenntnis an den Tag legte, konnte man von einer Minute zur nächsten das Ziel des Spotts werden.
Außer Wadlow und ein paar anderen, die zu schüchtern oder sonderlich waren – und somit von vornherein nicht zur Beute von Critchley und Judd gehörten –, kauerten alle um Dickies Bett und lauschten seinen unanständigen Limericks.
»Hier ist noch einer«, sagte er.
Eine Lesbe in Karthum
Nahm einst ’ne Schwuchtel mit in ihren Raum.
Sie kletterten behände in die Schlafstatt
Und die Schwuchtel sagte matt:
Wer macht was, womit und warum?
Tommy verstand den Witz ganz und gar nicht, brüllte aber trotzdem los wie all die anderen. Keiner achtete darauf, dass es |42| schon fast acht Uhr war. Er saß neben Dickie und sonnte sich im Abglanz von dessen Ruhm. Sie waren in den Augen aller die besten Freunde. Beide saßen sie mit dem Rücken zur Tür.
»Okay«, sagte Dickie und bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, still zu sein. »Hier ist einer, den ich mir ausgedacht habe. Wie wär’s …
Es war einmal ein Windhund namens Brent.
Dessen Schwanz war ziemlich stark gekrümmt
…
In diesem Moment sah Tommy, wie das Grinsen in den Gesichtern derer, die ihm gegenüber saßen und die Tür im Blick hatten, gefror. Er drehte sich um. In der Tür, an die Wand gelehnt, stand Mr. Brent, seine Arme vor der Brust verschränkt und ein merkwürdiges Lächeln auf den Lippen. Alle hatten ihn inzwischen gesehen. Alle, außer Dickie. Er war zu sehr von sich selbst hingerissen und bemerkte die plötzlich eisige Luft um ihn herum gar nicht.
Mühen wollte er ersparen der Oberin,
und steckte ihn doppelt rein.
Kam aber nicht, sondern ging!
Dickie lachte stolz und krümmte sich, und erst, als er merkte, dass der Witz nicht so gut anzukommen schien, schaute er in die Gesichter um sich herum und dann dahin, wohin sie alle starrten.
Mr. Brent klatschte dreimal kurz in die Hände.
»Sehr gut, Jessop. Bist ein echter Poet, wie ich sehe.«
Nervöses Gelächter erklang, und für einen Moment hatte Tommy den Eindruck, als nähmen es alle für einen Scherz. Mr. Brent hatte noch immer dieses merkwürdige Lächeln auf seinen Lippen. Dann, mit einem Mal, war es wie weggeweht.
|43| »Gut jetzt«, sagte er knapp. »Ins Bett, alle.«
Er sah zu, wie sie wie Mäuse in ihre Löcher stoben. Als es still war, alle Augen auf ihn gerichtet, sein Finger verharrte über dem Lichtschalter, fügte er leise hinzu:
»Wir sehen uns später, Jessop. Licht aus! Und Ruhe.«
Er knipste das Licht aus. Die Jungen lagen angsterfüllt im Dunkeln, bis die Schritte im Korridor verhallt waren.
»Du solltest
Schmiere
stehen, Bedford«, flüsterte Pettifer von der anderen Seite des Saales.
»Ich weiß«, sagte Tommy. »Verzeih mir, Jessop.«
Dickie antwortete nicht. Eine halbe Stunde später tauchte Brent wieder auf und befahl ihm leise, seinen Morgenmantel und die Pantoffeln anzuziehen und ihm in den Umkleideraum zu folgen.
»Viel Glück, Dickie«, flüsterte Tommy, als Jessop an seinem Bett vorbeischlurfe. Wieder keine Antwort. Lange traute sich keiner, ein Wort zu sagen. Wahrscheinlich stellten sich alle, genau wie Tommy, die Szene vor. Sie kannten die Prozedur aus Berichten von den älteren Jungs, denen es
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