Die wir am meisten lieben - Roman
lassen, es zu genießen, wieder Kontakt mit ihr zu haben, fast als hege er Hoffnungen. Der Kellner fragte, ob er die Weinkarte sehen wolle. Gina wurde hellhörig. Sie brannte darauf, zu erfahren, ob er noch trocken war. Ihre Zweifel trafen ihn. Er trank seit acht Jahren nicht mehr. Er bestellte eine Flasche Mineralwasser.
Vor ungefähr einer Woche hatten Gina und er von Danny gehört und noch immer nur eine vage Vorstellung von dem, was ihm vorgeworfen wurde. Das Militär sagte lediglich, ein Unfall habe sich ereignet, bei dem es »eine bislang nicht näher zu nennende Anzahl von zivilen Todesopfern gegeben habe«. Die Militärstrafverfolgungsbehörde sollte nun ermitteln. Alle Männer, die in den Fall verwickelt waren, auch Danny, waren vom Dienst suspendiert worden und durften das Lager in einer verlassenen Fabrik außerhalb Bagdads nicht verlassen. Danny hatte Gina ein paarmal angerufen und E-Mails geschickt, in denen er erklärte, sein vom Militär gestellter Anwalt habe ihm geraten, sich nicht über den Vorfall zu äußern.
|75| »Dutch hat gestern Abend einen Freund beim Militär gesprochen«, sagte Gina und beugte sich vor, damit sie niemand hören konnte.
Dutch
(schon allein bei dem Namen sträubten sich Tom die Haare) war ihr Ehemann. Für diesen ehemaligen Marinesoldaten hatte sie Tom verlassen. Dutch war nun der Stiefvater und das Vorbild für Danny.
»Weiß er was?«
»Mehr, als er zugeben wollte.«
Der Kellner brachte das Wasser. Sie sahen schweigend zu, wie er die Gläser füllte. Als er fort war, beugte sich Gina erneut vor.
»Offenbar war Dannys Einheit auf Streife, als sie angegriffen wurde. Eines ihrer Fahrzeuge ist auf eine Mine gefahren. Ein Mann wurde getötet, zwei andere wurden schwer verletzt. Danny und die anderen verfolgten die Terroristen und töteten sie. Anscheinend sind bei dem Schusswechsel auch Zivilisten zu Tode gekommen. Das ist alles, was der Mann verraten hat. Er sagte Dutch, wir sollten uns keine Sorgen machen. Die Untersuchung wäre reine Routine. Nach dem Haditha-Massaker sind die da oben wegen der Presse und des Vorwurfs des Vertuschens besonders nervös.«
»Hatte er irgendeine Ahnung, wie lange die Untersuchung dauert?«
»Nein.«
»Wir müssen Danny einen anständigen Anwalt besorgen.«
»Was meinst du damit,
einen anständigen Anwalt
? Er hat einen.«
»Nein, hat er nicht. Er hat irgendeinen Kuli, den ihm das Militär angedreht hat. Auf wessen Seite steht
der
denn, um Himmels willen? Damit sichern die sich doch ab.«
»Dutch sagt, die Militäranwälte sind vollkommen unabhängig.«
»Ach, sagt Dutch das?«
|76| Gina seufzte und sah weg. Tom tadelte sich für seinen Sarkasmus, den ihr Ehemann wie ein Reflex in ihm auslöste.
»Hast du von Danny gehört?«
»Nein.«
Sie brauchte nicht zu fragen, und er wusste, es war ihre Art und Weise, es ihm heimzuzahlen. Auf seine E-Mail von letzter Woche hatte Danny nicht reagiert. Seit Jahren hatten sie keinen Kontakt miteinander. Nicht seit dem heftigen Streit über den Entschluss des Jungen, in die Fußstapfen seines Stiefvaters zu treten. Sonderbar, dachte Tom, dass erst in dem Moment, in dem etwas schiefging, er plötzlich wieder am Leben seines Sohnes teilhaben durfte – oder sollte. Er war dankbar dafür und zugleich ein wenig gekränkt.
Er hatte in vielem versagt. Nicht in der Lage gewesen zu sein, eine enge Beziehung zu seinem einzigen Kind aufzubauen, dafür machte er sich den größten Vorwurf. Größer noch als für sein Versagen, mit der Mutter des Jungen einen normalen Umgang zu pflegen, obgleich beides unschwer voneinander zu trennen war. Dannys Meinung über ihn, so vermutete Tom, unterschied sich nicht sehr von der, die Gina von ihm hatte: Er war ein gestörter Säufer, ein rückgratloser, schuldbeladener Liberaler, ein Engländer ohne Familie, der vor langer Zeit zwischen die Kontinentalplatten geraten war und es nicht geschafft hatte, wieder hervorzuklettern. Den Jungen traf keine Schuld, dass er genau das Gegenteil von alldem sein wollte.
Tom zermarterte sich das Hirn darüber, ob nicht alles anders gekommen wäre, wenn er Gina nicht vor all den Jahren unter Druck gesetzt hätte, nach Missoula zu ziehen. Sie war die Tochter eines Ranchers und fühlte sich in Städten eingeschlossen. Dennoch, die ersten Jahre, als sie das Haus am Bach bauten und sie mit Danny schwanger war, waren wahrscheinlich – zumindest glaubte er das – die glücklichsten gewesen. Die Ironie des Ganzen war nur, dass Tom sich
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