Die wir am meisten lieben - Roman
Augenblick lang war alles still. Dann ein Schritt vorwärts von Mr. Rawlston und das Zischen des Stockes durch die Luft. Und im nächsten Augenblick der beißende, die Haut zerschneidende Schmerz auf seinem Gesäß. Tommy wimmerte, und beim zweiten Schlag schrie er auf. Dann dachte er an Dickie vor der Tür und dass alle Jungen ihn hörten. Er biss die Zähne zusammen und umklammerte die Bank, und beim dritten Schlag gab er keinen Ton von sich. Die Tränen konnte er nicht aufhalten. Langsam richtete er sich auf und blieb einen Moment lang so stehen. Er blickte auf die Drahtschränke. Er fühlte sich erniedrigt und klein und jämmerlich und war wütend.
»Zieh den Morgenmantel an.«
Tommy tat, wie ihm befohlen, ohne aufzusehen. Er wollte gerade zur Tür gehen, als er merkte, dass Mr. Rawlston seine Hand ausstreckte. Tommy hatte diesen Teil der Prozedur vergessen. Der Mann lächelte auch noch. Tommy schüttelte ihm die Hand.
»Es ist üblich, sich zu
bedanken
, Bedford.«
»Danke, Sir.«
|72| »Gut. Ab ins Bett jetzt.«
»Sir.«
Als er herauskam, lächelte Dickie und flüsterte:
Gut gemacht
. Tommys Hintern brannte. Er lief den Flur entlang und strich vorsichtig mit einer Hand über die drei Striemen. An seinen Fingern war kein Blut. Er stieg die knarrenden Holzstufen empor. Oben angekommen, hörte er den ersten Stockschlag. Er blieb stehen und fing an zu zählen. Zwei, drei, vier, fünf, sechs.
Tommy sollte sich umgehend zurück zum Schlafsaal begeben, aber er wartete auf Dickie. Sie würden zusammen zurückkehren. Und während er das dachte, merkte er, wie sich etwas in ihm veränderte. Er weinte nicht mehr. Er schämte sich auch nicht mehr oder tat sich leid. Es war, als breite sich das Glühen an seinem Hintern aus und erfülle ihn mit einem heldenhaften Stolz. Und dann kam Dickie grinsend die Treppe hoch.
»Sechs!«, flüsterte Tommy.
»Ja. Lächerlich.«
Tommy grinste.
»Ich habe gehört, was du gesagt hast. Dass es deine Schuld war. Danke.«
Er legte eine Hand auf Tommys Schulter.
»Los. Lass uns lieber ins Bett gehen.«
Sie gingen den langen Korridor entlang. Seite an Seite. Wie Waffenbrüder.
|73| SECHS
Beinahe fünf Jahre war es her, seit er Gina zuletzt gesehen hatte. Er war erstaunt, wie wenig sie gealtert war. Sie hatte ein paar Pfund zugenommen, aber das tat ihrem Aussehen keineswegs Abbruch, ebenso wenig die Lachfältchen um ihre braunen Augen. Sie trug die Haare kurz, auch das stand ihr. Um die Speisekarte zu lesen, setzte sie eine Brille auf, eine schmale, eckige mit einem glänzenden schwarzen Rahmen. Damit sah sie wie eine Akademikerin aus – und sexy. Das Leben war nicht gerecht. Fast Mitte fünfzig, und Gina war ebenso schön wie an dem Tag, an dem Tom sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Sie hatte das Restaurant ausgesucht. Es war luftig und schonungslos minimalistisch. Die Kellner trugen Schwarz. Die Küche aus Edelstahl war in der Mitte, so dass man zusehen konnte, wie das Essen zubereitet wurde. Alles auf der Karte war entweder
scharf angebraten
oder mit etwas
beträufelt
. Sie waren die einzigen Gäste und bekamen einen Tisch gleich am Fenster. Man fühlte sich wie in einem Zoo. Gina hatte sich schon zweimal entschuldigt, das Restaurant sei neu und sie wisse nicht, ob es etwas tauge. Tom kam nur noch nach Great Falls, wenn er einen triftigen Grund hatte. Auf der östlichen Seite des Berges gab es einfach zu viele Erinnerungen, und er wollte Gina nicht über den Weg laufen. Sonderbar, dass man sich vormachen konnte, man sei über jemanden hinweg. Jetzt, als er sie ansah, wie sie auf ihre Lippe biss und überlegte, was sie bestellen sollte, wurde ihm klar, dass er nicht über sie hinweg war und es wohl auch nie sein würde.
Der Kellner – er sah aus wie höchstens vierzehn – drückte sich vor dem Tisch herum, um ihre Bestellung aufzunehmen.
|74| »Ich nehme die Linguini«, sagte Gina. »Dann den Thunfisch. Rare.«
»Ausgezeichnete Wahl. Sie, Sir?«
»Frisch aus hiesigen Gewässern?«
»Der Thunfisch?«
»Die Linguini.«
»Ah –«
»Ich scherze. Ich nehme das Gleiche.«
Gina lächelte müde, wie immer, wenn er versuchte, witzig zu sein. Vielleicht war sie der Ansicht, dass angesichts der Probleme mit Danny jede Unbeschwertheit fehl am Platze war. Sie hatte natürlich recht. Seine Freude darüber, sie zu sehen, hatte ihn übermannt.
Seit er die Nachricht erhalten hatte, hatten sie fast täglich miteinander telefoniert. Tom hatte sich törichterweise dazu hinreißen
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