Die wir am meisten lieben - Roman
unterhielt sich Tommy mit ihm, entweder auf dem Hin- oder auf dem Rückweg. Immer empfahl ihm Ducky ein neues Buch oder einen Schriftsteller.
»Hab über dich nachgedacht, Bedford.«
»Sir?«
»Hast du schon etwas von Fenimore Cooper gelesen?«
»Nein, Sir. Noch nie von ihm gehört.«
»
Der letzte Mohikaner?
«
»Sie meinen Hawkeye? Habe ich im Fernsehen gesehen. Das ist toll.«
»Das Buch ist noch besser. Mal sehen, ob wir es für dich finden.«
Tommy hatte schon jeden Western aus der Bibliothek gelesen. Die nette alte Bibliothekarin hatte es sich zur Aufgabe |66| gemacht, ihm zu sagen, wenn ein neues Buch gekommen war, oder sie besorgte ihm sogar Bücher per Fernleihe. Solange er wartete, las er unter Ducks Anleitung andere Autoren wie Agatha Christie, P. G. Wodehouse oder den schreckenerregendsten Gespenstergeschichtenschreiber, den es auf der Welt gab, M. R. James. Die beste Empfehlung von The Duck aber war Rudyard Kipling gewesen. Tommy wurde an aufregende und exotische Orte versetzt, die aber doch beruhigend übersichtlich waren, wo Gefahren lauerten und sogar Bosheit, jedoch die Wahrheit und Anständigkeit obsiegte.
An einem dieser Mittwoche, in einem verregneten und trostlosen Juni, freundete sich Tommy zu seiner Überraschung und zaghaften Freude wieder mit Dickie Jessop an. Dickie liebte verbotene Comics und Zeitschriften mehr als Bücher und ging selten mit in die Bibliothek. Sie hatten gerade das Schultor passiert. Tommy lief ein wenig hinter der Gruppe her, teils zum Selbstschutz, aber auch, weil er seine Nase in den neuen Roman von Zane Grey gesteckt hatte. Er hieß
Arizona Clan
. Tommy war so vertieft, er hatte gar nicht bemerkt, dass Dickie neben ihm lief.
»Was hast du dir ausgeliehen?«
Tommy hob das Buch.
»Ich dachte, Zane Grey ist tot.«
»Das ist er. Aber seine Bücher erscheinen noch.«
»Du hast mehr gelesen als alle, die ich kenne.«
Tommy zuckte mit den Schultern.
»Ich lese gerne.«
»Stimmt es, dass deine Schwester in einem Film mit Gary Cooper mitspielt?«
Hätte ihn jemand anderer gefragt, hätte Tommy eine Falle vermutet und verneint. Jede persönliche Information wurde für gewöhnlich verdreht und gegen einen verwendet. Er würde der Lüge bezichtigt oder der Angeberei, oder sie würden Diane als |67| Nutte beschimpfen oder andere beleidigende Bemerkungen über ihr Aussehen machen. Aber Dickie war nicht wie die anderen.
»Ja«, antwortete er darum einfach.
Dickie nickte nachdenklich, schwieg aber. Tommy konnte nicht sagen, ob er beeindruckt war oder nicht. Wie beiläufig fügte er deshalb hinzu: »Sie ist in Hollywood.«
Dickie schwieg noch immer. Wieder nickte er nur und starrte hinüber zu den Sportplätzen, die sich durch den wochenlangen Regen in Schlammseen verwandelt hatten. Eine blasse Sonne spiegelte sich für einen Moment in den Pfützen der Auffahrt.
»Woher weißt du das? Ich meine, das mit Gary Cooper?«
Dickie schoss einen Stein in eine Pfütze.
»Weiß nicht. Hat irgendwer in einer Zeitschrift oder so gelesen.«
Dickie wollte die Information wahrscheinlich nur bestätigt wissen. Das war der einzige Grund, warum er ihn angesprochen hatte, überlegte Tommy. Allerdings zeigte er keine Eile, wieder wegzugehen. Sein Schweigen war weniger verwunderlich als beunruhigend. Dickie Jessop hatte sich seit den ersten Tagen, als sie noch beste Freunde waren, vollkommen verändert. Er gehörte nicht zu den Peinigern Tommys. Niemals schimpfte er ihn Bettnässer. Er ignorierte ihn einfach. Tommy nahm es nicht persönlich, denn Dickie ignorierte fast jeden. Er war, ebenso wie Tommy, wenn auch weitaus überzeugender, ein Einzelgänger geworden. All die Spitzbübigkeit, das Sprühen und der Unfug waren buchstäblich aus ihm herausgeprügelt worden.
Der Windhund hatte es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht. Wochenlang hatte er Dickie Nacht für Nacht in den Umkleideraum geholt. Dickie schien es als Herausforderung zu betrachten und verstieß absichtlich gegen irgendwelche Regeln, und zwar genau vor der juckenden Nase des Windhunds. Am Badetag und in den Duschen beäugten die anderen die blauen |68| Flecken. Dickies Pobacken waren ein abstraktes Gemälde in den Farben Schwarz, Blau, Lila und Gelb, ein unvollendetes Werk, das nicht verheilen konnte. Niemals aber hatte ihn jemand auch nur eine Träne vergießen sehen. Mit jeder Züchtigung allerdings wurde er stiller, ein wenig ernster und zog sich noch ein Stück weiter in sich selbst zurück. Es war, als
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