Die wir am meisten lieben - Roman
Diane bei einem Autounfall in England ums Leben gekommen.
Merkwürdig, dass eine oft erzählte Lüge eine feste Konstante werden konnte. Sogar in seinem Kopf wurde sie so stark und tröstend, als entspreche sie der Wahrheit. Tom hatte sich manchmal, nachdem Gina ihn verlassen hatte, gefragt, ob alles anders gekommen wäre, hätte er ihr die Wahrheit über Diane gesagt. Vielleicht hätte sie sein Versagen als Ehemann und Vater verstanden. Oder vielleicht hätte sie ihn nur bemitleidet. Mitleid war für Tom schlimmer als Scham.
Erst nach Ginas Anruf letzte Nacht, als sie ihm sagte, Danny sei aus dem Irak zurück, hatte er sich einen Ruck gegeben und die alten Fotos wieder hervorgeholt. Er war wie immer um sechs Uhr aufgestanden und mit Makwi am Bach entlanggejoggt. Seine Knie machten nicht mehr so mit, und so war es kaum mehr als ein Schlendern. Aber es befreite seinen Geist und half ihm in den Tag.
Es war ein klarer Maimorgen. Die Hündin war in den Wald gelaufen, irgendeinem Tier hinterher, das er nicht einmal bemerkt hatte. Er konnte nur nach ihr rufen und pfeifen und hoffen, dass es sich um ein Eichhörnchen handelte oder um ein Reh und nicht um einen Bären oder Berglöwen. Makwi war vom Pech verfolgt; mindestens alle zwei Monate kam sie mit einer Wunde zurück, die genäht werden musste. Tom wartete und musste an Danny denken, und ob er eine Reaktion auf die Nachricht erhalten würde, die Gina ihm ausrichten sollte.
Danny hatte Tom weder angerufen noch seine Mails beantwortet. Gina sagte, er solle das nicht so ernst nehmen, Danny bekomme am Tag ungefähr hundert Mails von irgendwelchen Fremden, die ihm Gutes wünschten, und anderen, die ihn schon verurteilt hätten und ihm den Tod wünschten. Sie und Dutch waren gestern nach San Diego geflogen und trafen Danny am Vormittag im Camp Pendleton.
|117| »Vielleicht sollte ich auch runterfliegen«, hatte Tom vorgeschlagen, obgleich er ihre Reaktion kannte.
»Das halte ich für keine gute Idee. Warte ein wenig.«
»Er ist auch mein Sohn.«
»Bitte, Tom, fang jetzt nicht damit an.«
»Ich fühle mich, wie soll ich sagen, so hilflos.«
»Ich weiß.«
»Sag ihm, dass ich ihn liebe. Bitte ihn, mich anzurufen.«
»Mache ich.«
»Oder sag mir, wann ich ihn anrufen kann. Hat er eine neue Handynummer?«
»Ja.«
Eine Pause entstand.
»Hat er gesagt, dass du sie mir nicht geben sollst?«
»Tom, es ist eine Menge vorgefallen. Ich meine, zwischen dir und Danny.«
»Hat er, oder hat er nicht?«
»Ja.«
Das, was zwischen ihnen vorgefallen war, lag vor ihm in einem gelben Umschlag, den er nach Ginas Anruf gestern Abend auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Danny ’93 bis …
stand darauf. Letzte Nacht hatte Tom nicht den Mut gehabt, sich die Fotos anzusehen, aber jetzt war er bereit. Nach dem Joggen hatte er geduscht, Makwi (hechelnd und aufgedreht, aber sonst unversehrt) gefüttert, gefrühstückt und die Zeitung durchgeblättert. Dann hatte er sich mit einer Tasse Kaffee an seinen Schreibtisch gesetzt. Er starrte den Umschlag eine Zeitlang an. Behutsam schüttelte er die Fotos auf den Tisch. Die letzten Bilder aus Dannys Kindheit, von ihm als Teenager, als angehender Mann.
Manche Bilder hatte Tom gemacht, an diesen immer unbehaglicher werdenden Wochenenden, an denen Danny zu ihm gekommen war. Das Lächeln wurde immer gezwungener, die |118| Augen blickten immer ausdrucksloser. Sein eigener Sohn wurde ihm fremd. Tom besaß auch Bilder aus der Zeit, nachdem Danny gesagt hatte, er wolle nicht mehr kommen, Fotos, die Gina geschickt hatte, damit wenigstens eine kleine Verbindung zwischen ihnen bestehen blieb. Danny im Footballteam, mit Freundinnen, die Tom nie kennengelernt hatte, das Bild von der Abschlussfeier in der Highschool mit frisch rasiertem Schädel. Dieses Foto war nur wenige Monate nach ihrem Streit aufgenommen worden.
Sogar jetzt noch, fünf Jahre später, erinnerte sich Tom an fast jedes Wort. Danny hatte angerufen und gesagt, er komme nach Missoula. Zum Mittagessen. Seit Weihnachten hatten sie keinen Kontakt gehabt. Am Klang der Stimme erkannte Tom, dass es sich um mehr als nur einen zwanglosen Besuch handelte. Der Junge wollte etwas Wichtiges besprechen – oder vielmehr: Seine Mutter hatte es ihm aufgetragen.
Danny kam um die Mittagszeit. Er fuhr einen großen schwarzen Pick-up mit jeder Menge Chrom und großen Scheinwerfern und aufgemalten Flammen an den Seiten. Der Wagen gehöre Dutch, sagte Danny. Das überraschte Tom nicht im Geringsten. Makwi
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