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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ausgegeben), die richtigen Geschenke zu finden. Für ihren Vater eine fein geschnitzte Meerschaumpfeife und einen grünen Filzhut mit Federn. Für ihre Mutter eine schwarze, mit Blumen verzierte |111| Samtweste. Und ab dem Augenblick, als sie ihre Eltern am Bahnhof abholte, war sie der Liebreiz in Person.
    Ihre Mutter roch den Braten, aber Dianes lebensfrohe Stimmung, ihre begeisterten Bemühungen, ihnen alles zu zeigen und mit den Menschen in der Stadt bekannt zu machen, mit denen sie eine Freundschaft geschlossen hatte, schien zu funktionieren. Besonders ihr Vater war ungewöhnlich zärtlich und besorgt. Manchmal legte er sogar seinen Arm um sie, wenn sie spazieren gingen.
    In der Stadt wurde Neujahr nach alter Tradition gefeiert. Männer und Jungen – alle ganz in Schwarz gekleidet, auch die Hände und Gesichter waren geschwärzt – trugen große und kleine Kuhglocken und gingen durch den Ort. Im Gänsemarsch liefen sie durch die Straßen, läuteten die Glocken und schlängelten sich durch die Hotels, Restaurants und größeren Häuser. Es war ein makabrer Anblick, und der Klang der Glocken war erregend und verstörend zugleich. Als die Prozession den Gasthof erreichte, speiste man noch zu Abend. Alle saßen zu Tisch und sahen zu. Manche – auch ihre Mutter – hielten sich die Ohren zu. Als es vorbei war, wurde gejubelt und gelacht und die Gläser zu einem Trinkspruch auf das neue Jahr erhoben.
    Diane hatte für ihren unerhörten Vorschlag auf den richtigen Moment gewartet. Nun schien er gekommen zu sein. Leise und gefasst erklärte sie, dass sie lange und gründlich darüber nachgedacht habe, wie es weitergehen solle, wenn das Baby geboren sei. Ihre Mutter erstarrte. Diane sagte, sie könne sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, das Kind wegzugeben. Sie sei seine Mutter, sagte sie (sie hatte keine Zweifel am Geschlecht des Kindes), daran sei nicht zu rütteln. Ihn für immer zu verlieren könne sie nicht ertragen. Aber … und jetzt hoben sich das Kinn und die Brauen ihrer Mutter. Noch nie hatte Diane sie auf solch heißen Kohlen sitzen sehen. Aber, fuhr sie fort, sie habe Verständnis dafür, wie sehr sie sich für ein illegitimes Kind in der |112| Familie schämten. Das wolle sie ihnen, die sie sehr liebe, nicht antun.
    Diane ließ ihre Worte einen Moment lang sinken. Die Nervosität, von der sie gedacht hatte, sie könnte ihren Auftritt zum Scheitern bringen, war wie weggeblasen.
    »Ich weiß, wie sehr ihr euch ein zweites Kind gewünscht habt. Und ihr wisst, wie gerne ich einen Bruder oder eine Schwester hätte. Also …« Diane schluckte. »Wir könnten doch einfach alle so tun, als ob … er euer ist.«
    Sie lächelte. Ihre Eltern starrten sie an. Ihr Vater räusperte sich.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig –«
    »Du meinst, so tun, als wären
wir
die Eltern des Babys?«, unterbrach ihre Mutter.
    Diane nickte.
    »Ich habe in meinem Leben noch nie so etwas Albernes gehört.«
    »Warum? Was ist daran albern? Du wolltest doch immer ein Baby haben.«
    Ihre Mutter runzelte die Stirn und blickte sich um. Sie hatte Angst, sie könnte gehört werden. Diane beugte sich vor und fuhr leiser fort.
    »Wer soll es erfahren? Ihr habt keine Freunde – es tut mir leid, das klingt furchtbar, aber es ist wahr, oder nicht? Nur Tante Vera, und die weiß es schon. Ihr könntet allen anderen erzählen, ihr hättet einen wunderbaren Arzt in der Schweiz aufgesucht, der euch geholfen hat.«
    »Gütiger Gott, das hast du dir ja schön ausgedacht.«
    »Ja, natürlich, Mutter. Ich habe euch das angetan, und ich schäme mich und … Ich habe mir das Hirn zermartert, wie es zu aller Zufriedenheit funktionieren könnte.«
    Bis dahin kam sie sich vor wie in einem Theaterstück, aber plötzlich war es echt – obwohl sie später, als sie wirklich auf der |113| Bühne stand, entdecken würde, dass beides nicht immer klar voneinander zu trennen war. Sie fing an zu weinen. Ihr Vater legte seine Hand auf ihre. Ihre Mutter sah sich wieder um, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete.
    »Bitte, Diane, mach keine Szene«, flüsterte sie.
    Ihr Vater kramte in seiner Tasche und zog ein Taschentuch hervor.
    »Ist ja gut, Liebes«, sagte er. »Weine nicht. Ist ja gut.«
    »Entschuldigt. Ich dachte nur …«
    Dabei blieb es. Jedenfalls einstweilen.
    Als sie wieder in ihrem Bett bei Frau Müller lag, wurde ihr erst bewusst, dass sie kein Wort darüber verloren hatte, dass sie beides wollte:
ein Leben
und das Baby. Vielleicht

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