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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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nicht schwanger geworden. Zum ersten Mal hörte Diane sich sagen, dass sie nur eines wirklich wollte: Schauspielerin werden. Das Einzige, was ihr in der Schule wirklich Spaß gemacht hatte, waren die Stücke, die sie auf die Bühne brachten. Fast immer bekam sie eine Hauptrolle, und jeder, sogar die Lehrer, sagten, wie gut sie sei. Ihre Mutter lächelte wehmütig und nickte.
    »Du hättest auf eine dieser wunderbaren Schauspielschulen gehen können«, sagte sie und nippte an der heißen Schokolade. »In London. Na ja.«
    Diane verstand die Botschaft. Sollte sie einer Adoption zustimmen, könnte dieser Traum wahr werden. Es war ein neuer, schlauerer Kurs. Vorher waren es Kampfansagen gewesen: Wie sollten sie und das Baby mit der Schande fertig werden, wo würden sie leben, und wer sollte die Rechnungen bezahlen? Ein neuer raffinierterer Samen war gesät worden. Und nachdem ihre Mutter abgereist war, als der Schnee zu fallen begann und die Wochen ins Land gingen, fing er an zu sprießen.
    Ihre zwei Mitinsassen, sie waren katholisch – Angela aus Bristol, die unablässig weinte, und Pam, ein weltgewandteres Mädchen aus dem Norden Londons –, gaben ihre Babys zur Adoption frei. Das gehörte offenbar zu dem Paket, das Frau Müller |109| zusammen mit den Schwestern der Gnade anbot, deren Kloster fromm auf dem Hügel außerhalb der Stadt lag.
    Abends, nach dem Essen, zogen sich die Mädchen für gewöhnlich in die Stube zurück, in einen gemütlichen Raum mit Ofen, um zu lesen. Die Ruhe wurde nur von einer heiseren Kuckucksuhr gestört. An diesem Abend – der Duft von Kassler und Kohl hing noch in der Luft – saßen Pam und Diane am Ofen und lernten eine Passage aus Goethes
Egmont,
die sie am nächsten Tag Herrn Schneider vortragen sollten. Angela war schon ins Bett gegangen und weinte wahrscheinlich wieder in ihr Kissen. Pam war einen Monat weiter als Diane. Plötzlich legte sie ihre Hände auf den Bauch und gab einen erschrockenen kleinen Schrei von sich. Diane fragte, was los sei.
    »Es hat getreten! Oh. Und noch mal.«
    Diane erhob sich aus dem Sessel und kniete sich neben Pam.
    »Darf ich mal fühlen?«
    Pam nahm ihre Hand und legte sie an die Stelle.
    »Da. Hast du es gespürt?«
    »Donnerwetter. Wie fühlt es sich an?«
    »Wie ein … ein Flattern.«
    »Tut es weh?«
    »Nein. Es ist sogar ganz angenehm.«
    Als die Bewegungen aufgehört hatten, setzte sich Diane wieder in ihren Sessel.
    »Hast du je daran gedacht, es zu behalten?«
    »Das Baby? Um Gottes willen, nein! Ich hätte es abgetrieben, aber meine Eltern sind streng katholisch und glauben, es sei eine Todsünde.«
    »Was ist eine Todsünde?«
    »Keine Ahnung. Etwas, das Spaß macht, nehme ich an.«
    Diane musste lachen.
    »Willst du keine Kinder haben?«, fragte sie.
    »Doch, aber nicht jetzt. Erst einmal will ich leben. Eine |110| Arbeit finden, was
machen
. Und dann habe ich Kinder mit einem Mann, mit dem ich verheiratet bin und den ich liebe.«
    »Dann hast du den Vater nicht geliebt?«
    »Gott, nein. Er ist ein totaler Halunke.«
    Ein langes Schweigen trat ein; sie widmeten sich wieder
Egmont
. Doch Dianes Gedanken schweiften ab.
    »Darf man das Baby sehen? Ich meine, wenn es geboren ist?«
    »Ich glaube nicht. Sie nehmen es einfach weg. Damit man nicht irgendwelche Muttergefühle entwickelt, weißt du?«
    Diese Aussicht schien Pam nicht zu stören. Aber Diane konnte sich nicht vorstellen, dass man ihrem Baby das antat. Der Kuckuck kam aus seiner kleinen Tür und verkündete, es sei neun Uhr.
    »So wahr mir Gott helfe«, sagte Pam. »Eines Tages drehe ich dem verfluchten Ding den Hals um.«
    Diane konnte in jener Nacht kaum schlafen. Am nächsten Tag, nachdem sie sich eine strenge Ermahnung von Herrn Schneider für ihre Vergewaltigung des Textes von Goethe hatte anhören müssen, konnte sie nur noch an eines denken: Es musste einen Weg geben, dass sie beides haben konnte – das Baby und, wie Pam es ausgedrückt hatte, ein
Leben
.
    Vielleicht passte es, dass sie ausgerechnet an Weihnachten die Sache zur Sprache brachte. Auch all die Jahre danach konnte Diane nicht sagen, was erstaunlicher gewesen war: ihre Idee oder dass ihre Eltern sich darauf eingelassen hatten.
    Sie waren über Weihnachten und Neujahr zu ihr in die Schweiz gekommen. Diane hatte sich gründlich vorbereitet. Sie hatte ihnen ein Zimmer in einem schönen kleinen Gasthof gleich um die Ecke von Frau Müller besorgt und lange dafür gebraucht (und zu viel von ihrem schmalen Budget

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