Die wir am meisten lieben - Roman
war es ja besser so. Wenn sie gesagt hätte, sie wolle auf die Schauspielschule gehen, hätte ihre Mutter einen Wutanfall bekommen und behauptet, auch das sei wieder einer ihrer typisch selbstsüchtigen Tricks.
Am nächsten Morgen fuhren sie alle drei mit einem Pferdeschlitten zum Bahnhof. Es schneite. Sie schwiegen betreten, während sie auf dem Bahnsteig darauf warteten, dass die Koffer in den Schlafwagen geladen wurden. Ihr Vater trug den neuen Hut, ihre Mutter sah zerstreut aus. Als der Pfiff des Schaffners ertönte, fragte Diane, ob sie sich ihr Angebot überlegt hätten. Ihr Vater zog nachdenklich an seiner kalten Meerschaumpfeife, nahm sie dann aus dem Mund und räusperte sich.
»Nun«, sagte er. »Wir müssen wohl umziehen. Irgendwo anders neu anfangen. Keine Sorge, altes Mädchen. Wir werden es probieren.«
|114| NEUN
Toms Arbeitszimmer befand sich im hinteren Teil des Hauses. Sein Schreibtisch stand vor dem Fenster mit Blick über den Bach. Manchmal, wenn er von seinem Computer aufblickte, sah er im Schatten der Pappeln Rehe auf Nahrungssuche. Vor Jahren hatte er einmal im Frühjahr eine halbe Stunde lang eine Schwarzbärin und ihre Jungen dabei beobachtet, wie sie sich an einer seichten Stelle nass spritzten und gegenseitig jagten. Es gab einen alten Witz: Warum blicken Autoren morgens niemals aus dem Fenster? Antwort: weil sie dann am Nachmittag nichts mehr zu tun haben. Tom wusste, er wäre produktiver, wenn er sich diese Aussicht versagte und den Schreibtisch vor die Wand stellte. Aber an den Wänden standen übervolle Bücherregale, die jeden Moment zusammenzubrechen drohten. Obwohl der Gedanke, dass ein Autor unter seinen Büchern begraben wurde, einen gewissen Reiz hatte, ließ er die Dinge lieber so, wie sie waren.
Für neue Regale war kein Platz, und so türmten sich an jeder nur möglichen freien Stelle auf dem Holzfußboden, auf dem ein indischer Teppich lag, Bücher und Kisten, Papiere und Zeitschriften. Auf der Ledercouch schlief Makwi tagsüber auf einer alten Bisonwolldecke. Ihre Pfoten zuckten, wenn sie im Traum Eichhörnchen jagte. Hinter der Couch standen eine große Kommode, die im gleichen Graublau gestrichen war wie die Wände, und Regale mit einer Unmenge gerahmter Fotos. Nur zwei aber waren von Tom: Auf einem posierte er mit einem Stammesältesten der Blackfeet, und auf dem anderen hielt er einen Preis von einem Filmfestival in Kanada für seine Fernsehserie. Die anderen |115| waren alle von Danny und Gina, Urlaubsfotos – von einer Wanderung in der Bob Marshall Wilderness, Skifahren in Big Sky, ein Kanuurlaub im Sommer am Missouri, wo sie in ständiger Angst vor Klapperschlangen gezeltet hatten.
Alle Fotos, die aus irgendeinem Grund keinen Rahmen verdienten, bewahrte Tom in der unteren Schublade in großen gelben Umschlägen auf, die er akkurat beschriftet und datiert hatte. Es war lange her, seit er sie sich das letzte Mal angesehen hatte. Mit ihnen hatte er sich an den trüben Abenden voller Selbstmitleid getröstet, nachdem Gina ihn verlassen hatte. Seine Trinkerei hatte damals ihren Höhepunkt erreicht.
Er hatte sich auf den Boden gesetzt, eine Literflasche Jack Daniels neben sich, die Bilder vor sich ausgebreitet und versucht zu begreifen, was geschehen war, mit dem einzigen Erfolg, dass er noch unglücklicher und verwirrter wurde und das Vergessen herbeisehnte. In einem Moment der Klarheit war ihm eines Nachts aufgefallen, wie selten er auf den Fotos abgebildet war. Als habe er sich, als er die ersten acht Jahre ihrer Ehe und von Dannys Leben dokumentierte, unsichtbar gemacht oder sich herausgeschnitten. Manchmal hatte ihn Gina ermahnt, er solle die Kamera weglegen und
zu
ihnen kommen. Bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker ein paar Jahre später hatte jemand darauf hingewiesen, dass es mit dem Alkohol ähnlich war. Er half einem, sich aus dem eigenen Leben herauszuschneiden.
Diese Art der Eliminierung war zu Toms zweiter Natur geworden, seit seinem dreizehnten Lebensjahr, seit dem Tod von Diane. Dieses schreckliche Jahr auf der Junior High in Los Angeles, als sie im Todestrakt saß, hatte ihn gelehrt, was es bedeutete, wenn andere Menschen die Wahrheit kannten: dass seine Mutter, eine verurteilte Mörderin, in die Gaskammer gegangen war. Die bearbeitete Fassung – Diane war darin seine Schwester und Joan und Arthur waren seine Eltern – erleichterte das Leben. In dieser Version, die diejenigen kannten, die ihm am |116| nächsten waren, selbst Gina und Danny, war
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