Die wir am meisten lieben - Roman
untergraben. Hätte er auch nur einen Augenblick lang nachgedacht, wäre ihm bewusst geworden, dass nur Wut und Feindseligkeit das Ergebnis sein konnten. In diesem kurzen Wortwechsel hatten sie beide der Karikatur, die sie vom anderen im Kopf hatten, alle Ehre gemacht.
Am idiotischsten war, dass Tom eigentlich gar nichts gegen das Militär hatte oder gegen die, die ihren Dienst taten. Im Gegenteil, er empfand Respekt und Sympathie für die jungen Männer und Frauen, die im Vietnamkrieg vor drei Jahrzehnten ihr Leben riskiert oder verloren hatten. Seine Aversion richtete sich einzig gegen die Männer in Anzügen, die sicher in Washington und London saßen und diese jungen Leute aus fragwürdigen Gründen in den Krieg schickten.
Er wusste auch, dass der Streit mit Danny nichts mit dem |122| Militär oder mit Politik zu tun hatte. Es war eine persönliche Sache. Es ging um Toms Selbstmitleid und seine Eifersucht, dass ein anderer Mann seine Stelle als Vater einnahm. Jetzt, da er einen klareren Blick hatte für die Welt und sie nicht durch einen Nebelschleier aus Alkohol sah, konnte er sich glücklich schätzen, dass der Junge überhaupt eine Vaterfigur gefunden hatte.
Tom starrte lange auf das Foto aus Dannys Highschool-Jahrbuch. Er legte es beiseite und sah das letzte Bild an. Es war im Trainingslager für Rekruten nördlich von San Diego aufgenommen worden, an dem Tag, an dem Danny Adler, Globus und Anker, das offizielle Emblem der Marine, verliehen worden war. Tom war zur feierlichen Zeremonie nicht eingeladen worden. Gina hatte das Foto im Herbst geschickt, als wollte sie sagen, sei bloß nicht stolz. Es hatte nur eines bestätigt: dass sie nichts mehr miteinander zu tun hatten. Es war, als blickte er einen Fremden an. Und sosehr Tom sich wünschte, das Gegenteil wäre der Fall, er wurde dieses Gefühl einfach nicht los.
Um die Mittagszeit ging er mit dem Foto in einen kleinen Laden für Geschenkartikel in der North-Higgins-Straße und kaufte einen eleganten Rahmen. Zu Hause stellte er das Bild nicht zu den anderen Familienfotos auf die Kommode, sondern auf das Fensterbrett vor seinem Schreibtisch. Danach widmete er sich wieder seiner Arbeit und wartete darauf, dass Gina oder – Hoffnung, wo es keine gab – Danny anrief. Wenn er vom Computerbildschirm aufsah, blickte er in das Gesicht eines Fremden.
Tom schrieb einen Artikel für den
Missoulian
über ein Jesuiteninternat für Blackfeet-Kinder, das in den späten 90er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in der Nähe von Browning am Two Medicine River gegründet worden war. Das Internat hieß Holy Family Mission und überdauerte vierzig Jahre. Tom hatte ihm in seinem Buch ein ganzes Kapitel gewidmet und für die Recherche mit einigen ehemaligen Schülern Interviews geführt. |123| Um seine Erinnerung aufzufrischen, hatte er die Bänder noch einmal angehört. Das Zeugnis dieser Menschen rührte ihn noch genauso wie beim ersten Mal.
Die Wilden sollten an diesem Ort zivilisiert und ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis errettet werden. Viele der ersten Schüler wurden mit Gewalt ihren Familien und dem Reservat entrissen, die geflochtenen Zöpfe abgeschnitten, ihre Lederkleidung und Mokassins durch die Kleidung des weißen Mannes ersetzt. Wenn sie wegliefen – viele haben es versucht –, wurden für die Familien die Nahrungsmittelrationen gekürzt, die sie von einer Regierungsbehörde bezogen. Wurden sie eingefangen oder kamen sie zurück, dann wurden die Flüchtigen ausgepeitscht – wie für viele andere Sünden, zum Beispiel Unterhaltung in ihrer Muttersprache.
Am meisten beeindruckte Tom, dass die wenigsten von denen, die er interviewte, einen Groll hegten. Einige, die den christlichen Glauben angenommen hatten, waren sogar die vehementesten Verteidiger und Bewahrer der Reste der Blackfeet-Kultur und -Sprache. Die Fähigkeit, zu vergeben, war eines der mysteriösesten Wunder im Leben. Tom wünschte, er könnte etwas mehr davon in seinem eigenen Herzen finden.
Gegen sechs Uhr, als die Schatten des Waldes auf der Wiese länger wurden und das Licht goldener wurde, schaltete Tom den Computer aus. Danny in seiner schicken Uniform starrte ihn vom Fensterbrett aus an. Und Gina hatte nicht angerufen.
Er ging mit Makwi auf dem schlängeligen Pfad auf der anderen Seite des Waldes spazieren und sah ihr zu, wie sie durch den Tannen- und Kiefernwald jagte. Es war warm und duftete nach Harz. Sie gingen bis zum Fuß des Felsens, wo die Raben ihre Nester bauten, und
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