Die wir am meisten lieben - Roman
vielleicht gar nicht existierten?
Nein. Was geschehen war, war mit Sicherheit eigenartig, aber es hatte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Diane hatte gesagt, sie alle seien noch dieselben, die sie immer gewesen waren. Und überhaupt, Ray würde jetzt sein Vater sein. Und wer konnte sich schon einen besseren Vater wünschen als ihn? Und wieso sollte er traurig darüber sein, dass er nicht wieder zurück nach Ashlawn musste, sondern nach Hollywood gezogen war und in Rays Garten mit echten Pistolen auf Indianer schoss?
|130| Vor zwei Wochen waren Diane und er angekommen. Sie hatten ein kleines Apartment in der Nähe vom Wilshire Boulevard gemietet, dort allerdings nur die eine oder andere Nacht verbracht, denn sie wohnten hier oben bei Ray. Tommys Zimmer war zehnmal größer als sein altes, und jeden Morgen, wenn er aufwachte, hielt er die Augen noch einen Moment geschlossen und fragte sich, ob es alles noch da sei, wenn er sie öffnete. Er stand auf, ging auf Zehenspitzen zu den geschlossenen Lammellentüren und trat auf seinen eigenen Balkon, dessen Holzbohlen sich unter seinen nackten Füßen heiß anfühlten. Der Himmel war immer blau, die Sonne warm auf seiner Haut, und die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Tommy ging ans Geländer, lehnte sich vor und blickte auf den Swimmingpool und die Palmen und die Stadt jenseits mit ihrem unermesslichen Netz aus Straßen und Palmen, die sich im Dunst verloren. Miguel, der Gärtner, mähte den Rasen und goss die Blumenbeete oder fischte Blätter aus dem Pool; er sah zu Tommy herauf, winkte und rief: »Guten Morgen, Mister Tommy! Wie geht es Ihnen heute?«
Das Haus war wunderschön. Das Dach hatte rote Ziegel, und an den rauen weißgekalkten Wänden rankten sich Pflanzen mit rosa und lila Blüten empor. Inmitten der Auffahrt, die rot gepflastert war, stand eine bronzene Statue, ein sich aufbäumendes Pferd. Im Haus waren die Wände weißgewaschen und vollgehängt mit ausgestopften Köpfen von Hirschen und Elchen und Buffalos. Es gab auch viele Gemälde mit Westernmotiven, jedes angestrahlt von einer Messinglampe. Der Boden im Erdgeschoss war aus poliertem Stein, auf dem Kuhfelle lagen oder indianische Teppiche. Im Wohnzimmer standen Stühle mit Lehnen aus echten silberbeschlagenen Sätteln. Der Fernseher war mindestens dreimal so groß wie die, die er aus England kannte, und das Ledersofa, auf dem er saß, wenn er fernsah, war so groß, dass er sich vorkam wie Alice im Wunderland, nachdem sie den Zaubertrank getrunken hatte.
|131| Ray zog einen neuen Indianer aus dem Stapel, der an der Wand der Schießanlage lehnte, und befestigte ihn am Rahmen. Danach gingen sie zurück zur Veranda, Ray in der Mitte, die Arme um sie beide geschlungen. Tommy durfte den Colt laden und machte es genau so, wie man es ihm gezeigt hatte: den Zylinder nach hinten ziehen, prüfen, ob die Waffe gesichert war, bevor er sie, Griff zuerst, Diane reichte.
»Okay, schwere Colts in zarter Hand«, sagte Ray. »Mal sehen, wie sie sich macht.«
Er zeigte Diane, wie man die Waffe halten musste, und stand hinter ihr, berührte sie an den Schultern und sagte all das, was er auch Tommy gesagt hatte. Der erste Schuss verfehlte sein Ziel, aber dann traf Diane den Indianer fünfmal hintereinander in den Kopf und die Brust. Tommy war gleichermaßen neidisch und stolz. Ray hob sie hoch und schwenkte sie herum, und dann nahm er sie in den Arm und küsste sie lange. Sie küssten sich wirklich oft. Tommy fand das ein wenig peinlich. Meistens sah er weg oder tat so, als wäre er mit etwas anderem beschäftigt.
Als sie fertig geküsst hatten, sagte Ray, er sei so hungrig, er könnte ein ganzes Pferd verspeisen. Also gingen sie zurück zum Haus, erst einen steilen, kurvenreichen Pfad entlang, dann zweiundvierzig Stufen hinauf und schließlich auf einem schmalen Kiesweg, der von Palmen, Eukalyptusbäumen und ein paar Dornenbüschen gesäumt war. Miguel hatte erklärt, die Büsche hießen
yucker
. Kleine grünbraune Echsen huschten über den Boden. Ray sagte, man müsse die Augen offenhalten, denn es gebe auch Klapperschlangen. Oben bei der Wiese waren die Rasensprenger angestellt, die Regenbögen machten, und Ray forderte ihn auf, hindurchzulaufen. Tommy rannte, wurde nass, aber es war egal, denn er brachte Diane und Ray zum Lachen. Außerdem war die Sonne so warm, dass er innerhalb von Minuten wieder trocken war.
Von der Wiese stiegen sie die letzten Stufen hinauf, liefen um |132| den Swimmingpool herum zur
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