Die wir am meisten lieben - Roman
sich in der heißen Luft. Die drei machten sich durch den von der Sonne heißen Sand auf, um den Indianer zu betrachten.
Tommys Sporen klirrten. Sein Blick war auf seinen eigenen Schatten geheftet. Die Krempe seines Hutes war vielleicht ein wenig groß, aber die Wirkung war beeindruckend. Der Schatten eines echten Cowboys. Er trug die Kluft, die ihm Ray am Morgen ihrer Ankunft in Los Angeles geschenkt hatte: die perfekte Kinderausführung von Ray McGraws aus
Sliprock
. Ray sagte, er habe sie speziell vom Studio anfertigen lassen, und sie sei viel besser als die, die man in Spielzeugläden kaufen konnte. Die Jacke und die Cowboy-Überhosen waren aus echtem, mit Fransen besetztem Hirschleder, und in dem ledernen Pistolengurt mit Silberschnalle steckten silberne Patronen, die richtig echt aussahen. Die dazu passende Pistole war natürlich nicht echt, nicht wie Rays, mit der er gerade geschossen hatte, aber sie hatte den gleichen Elfenbeingriff und sechs Kammern und Patronen, in die man Zündkapseln stecken konnte. Der Knall war laut und tat in den Ohren weh. Ray hatte ihm auch ein Daisy-Luftgewehr gegeben, das wie eine Winchester aussah. Sie hatte ein Unterhebelrepetierer und verschoss rote Schrotkugeln, mit denen man, so sagte Ray, sogar Vögel und kleine Tiere wie Streifenhörnchen töten konnte. Tommy hatte es versucht, aber bisher erfolglos.
|128| »Hey, gut geschossen, Sohn. Sieh her, genau in den Hals.«
Ray nahm den bemalten Pappindianer von dem Metallrahmen und hielt ihn so, dass sie ihn von nahem betrachten konnten. Das Gesicht über dem Einschussloch hatte Kriegsbemalung und blickte mürrisch.
»Du hast gerade deine erste Rothaut erledigt.«
Ray streckte seine Hand aus. Tommy grinste und schüttelte sie, vor Stolz errötend.
»Jetzt ist deine Mom dran.«
Diane lachte.
»O nein, ich glaube nicht.«
»Komm, Süße. Du musst es irgendwann einmal lernen. Was soll denn der alte Gary Cooper denken, wenn er herausfindet, dass seine Hauptdarstellerin nicht mit einer Waffe umzugehen weiß?«
»Ich spiele eine Lehrerin, keine Revolverheldin. Und er schert sich gewiss nicht darum.«
Ray, seine Hand an ihrer Taille, zog sie zu sich heran.
»Was meinst du, Tommy? Findest du nicht auch, sie sollte es einmal versuchen?«
»Ja! Mach schon, Diane!«
Er hatte noch nie Mom oder Mama zu ihr gesagt und konnte sich auch nicht vorstellen, es jemals zu tun. Ihm fiel es schon schwer genug, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie nicht seine ältere Schwester war. Es war wie ein Spiel, in dem plötzlich alle Regeln geändert worden waren und jeder raten musste, wer wer war.
Unheimlich oder verstörend war es einzig an jenem schrecklichen Abend gewesen, an dem alles auf den Kopf gestellt worden war. Tommy hatte nie den Blick seiner Mutter vergessen – oder besser gesagt, seiner Großmutter –, als Diane ihm die Nachricht beigebracht hatte. Oder wie sein Vater geschaut hatte, als sie sich am Gate verabschiedeten. Er war blass gewesen und |129| sah mitgenommen aus, und plötzlich waren ihm Tränen in die Augen gestiegen. Tommy hatte sich noch einmal umgedreht und gewinkt, er war erschrocken, wie alt und zerbrechlich der Mann, der in Wahrheit sein Großvater war, gewirkt hatte.
Tommy wusste auch nicht, wie er sie ansprechen sollte. Diane hatte gemeint, er solle sie
Großmama
und
Großpapa
nennen oder Joan und Arthur. Aber weder das eine noch das andere erschien ihm richtig. Als sie vor ein paar Tagen telefoniert hatten, hatte er ihnen bloß vom Flug von London erzählt und wie heiß und sonnig Los Angeles war und dass er bald in eine Schule gehen werde, die Diane und er ausgesucht hatten. Sie heiße Carl Curtis, und alle machten einen netten und freundlichen Eindruck, sogar die Lehrer. Tommy konnte seine Großeltern nicht gut hören, es rauschte in der Leitung, und sie fielen sich gegenseitig ins Wort. Trotzdem, sie klangen traurig.
Tommy glaubte, dass er vielleicht auch traurig sein sollte, aber das war er nicht. Merkwürdig, plötzlich keinen Vater mehr zu haben. Manchmal, vor dem Einschlafen, musste er an David denken, den Jungen, der sein richtiger Vater war. Er fragte sich, wo dieser David wohl lebte und was für ein Mensch er war. Vielleicht hatte er jetzt andere Kinder, Kinder, die Tommys Halbschwestern und -brüder waren. Er war nicht eifersüchtig; es war, als ob er jemanden vermisste. Doch wie konnte man jemanden vermissen, den man nie kennengelernt hatte? Oder auf Menschen eifersüchtig sein, die
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