Die Witwen von Paradise Bay - Roman
wird erneut übel. Der intensive Essensgeruch macht die Sache nicht angenehmer. Ich konzentriere mich auf meine Hände und spiele mit meinem Verlobungsreif und meinem Ehering.
Howie hatte mich mit dem Verlobungsring an Bord eines Bootes, das er für eine Walbeobachtungstour gechartert hatte, überrascht. Er war vor versammeltem Familien- und Freundeskreis auf die Knie gesunken, aber dann hatte eine Welle das Boot seitlich getroffen, und Howie war, noch bevor er den Brillanten hervorzaubern konnte, »auf den Arsch geplumpst«, wie mein Vater gesagt hätte. Howie musste sich Landratte nennen und das Gespött des Bootes über sich ergehen lassen, doch am Ende war es ihm gelungen, sich auf ein Knie zu stützen und mich zu bitten, ihn zu heiraten. Dem war ein Chor aus Aaahs und Ooohs gefolgt, aber meine intensivste Erinnerung ist der Gesang der Buckelwale, die mich drängten, Ja zu sagen, dabei brauchte ich keine Entscheidungshilfe. Ich war so glücklich wie nie zuvor. Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass dieser Tag hier einmal kommen würde.
»Hör auf zu heulen, Prissy«, sagt Mom. Mir war gar nicht bewusst, dass ich weine. »Nach dem Gedenkgottesdienst wird’s dir besser gehen. Der Pastor hat eine geschmackvolle Andacht versprochen.«
»Gedenkgottesdienst?«, frage ich fassungslos. Dabei ist mir klar, was meine Mutter geplant hat, und allein bei der Vorstellung schaudert es mich.
»Nur eine stille Andacht, Prissy«, erwidert sie. »Im kleinen Kreis. Ich hab die Lieder schon ausgesucht, und Barb Donovan singt ›Amazing Grace‹. Eine Stimme wie ein Engel hat diese Frau.«
Meine Mutter verblüfft mich immer mehr. Sie hat Howie von Herzen geliebt, immer furchtbar viel Wirbel um ihn gemacht. Ich hatte sogar Angst, sie würde mir die Schuld für mein Ehedrama geben – doch nichts dergleichen. Stattdessen hat sie Howies Existenz einfach ausgelöscht, und auf eine perverse Weise finde ich das rührend.
»Mom, ich weiß wirklich zu schätzen, was du vorhast, aber du musst dem Pastor, und allen anderen auch, die Wahrheit sagen. Ich habe ja schon ein schlechtes Gewissen, einen Kartoffelsalat zu essen, der aus Anteilnahme für mich gemacht wurde.«
»Ach, das ist noch gar nix«, sagt Charlie und kaut dabei auf etwas Quicheartigem herum. »Ich hab heut Morgen auf der Post gehört, dass die Kollekte vom Sonntag wohl an Priss und Quentin gehen soll.«
»Krieg ich dann ’ne Xbox?«, fragt Quentin hoffnungsvoll, denn ich hatte ihm verboten, seine mitzunehmen. Dass er die kommenden Wochen ohne seine Spielkonsole verbringen sollte, hatte ihn weit mehr aus der Fassung gebracht als das Ende der Ehe seiner Eltern oder der plötzliche Aufbruch nach Neufundland.
Die bevorstehende Kollekte bringt mich in eine ungeheure Verlegenheit. »Oh, Gott, nein«, murmele ich und lasse den Kopf beschämt sinken. »Mom, bitte, du musst das klarstellen.«
Doch ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wird sie weder wanken noch weichen. »Gütiger Herr im Himmel«, sagt sie mit unverhohlenem Ärger. »Warum bist du so undankbar?« Sie setzt sich an den Küchentisch, zündet sich eine weitere Zigarette an und bläst den Rauch in zwei Schwaden durch die Nase aus. »Ich tu das alles nur, um dich und Quentin zu schützen, und du sitzt da und spielst die Heilige. Ich versuch zu retten, was zu retten ist, da könntest du wenigstens Danke sagen.«
Meine Mutter ist ernstlich betroffen, und ich fühle mich noch elender. Ich kann es im Moment niemandem recht machen. »Danke«, flüstere ich schicksalsergeben. Ich bin noch keine vierundzwanzig Stunden hier, doch meine Lage hat sich in der kurzen Zeit schon deutlich verschlimmert.
Kapitel 6
Lottie
Ich glaube, Ches hat eine Affäre, aber mir ist es, ehrlich gesagt, egal. Ich bemühe mich, so zu fühlen, wie ich fühlen sollte – schockiert, wütend, verraten, verletzt –, aber ich empfinde nichts dergleichen. Allenfalls verspüre ich Erleichterung, weil er endlich aus dem Bett gestiegen ist, Anstalten macht, das Haus zu verlassen, und ich mir sein Gewimmer über Rückenschmerzen und Kopfweh nicht länger anhören muss.
Er hat sich mir noch nicht offenbart, aber welchen Grund sollte es sonst für seine Erscheinung geben? Er ist kaum wiederzuerkennen. Er hat sich zum ersten Mal seit Wochen rasiert und riecht nach Seife oder Aftershave, jedenfalls nicht nach Kippen, deren Gestank ich sonst mit Ches verbinde. Er trägt eine braune Hose und den Seemannspullover, den ich ihm letztes Jahr auf dem
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