Die Witwen von Paradise Bay - Roman
»Ich komme gleich«, rufe ich mit schriller, zitternder Stimme. Meine Worte zeigen Wirkung, denn Moms Pantoffeln quietschen die hölzernen Stufen hinab. Widerwillig ziehe ich mir eine Trainingshose und einen alten Pullover an und gehe nach unten. Auf das, was mich dort erwartet, bin ich allerdings nicht vorbereitet.
In der Küche stapelt sich überall Essen, auf der Anrichte und auf dem Küchentisch. Quentin schaufelt sich gerade eine große Portion, es sieht wie Hühnerpastete aus, auf den Teller, und meine Mutter fischt Würstchen aus einem Topf. In der Mitte des Küchentischs prangt ein Truthahn unter Frischhaltefolie. Allein das Essen auf der Anrichte reicht für ganz Paradise Bay.
»Was ist das?«, frage ich. Vielleicht hilft Mom beim alljährlichen Truthahnessen der Gemeinde, aber ich sehe keine Styroporteller, und auch Lasagne gehört, das weiß ich genau, nicht zum traditionellen Truthahnmahl.
»Ach, wen haben wir denn da«, sagt meine Mutter in gespieltem Erstaunen. »Komm und probier mal«, drängt sie und wedelt mit einem Würstchen vor meinem Gesicht herum. »Na los, die sind lecker und würzig.«
Ich würge das Würstchen herunter und habe Mühe, es im Magen zu behalten. Mom sieht mich erwartungsvoll an. »Die sind gut«, lüge ich, obwohl es sicher besser schmecken würde, wenn mir nicht schon vom bloßen Gedanken an Essen übel würde. »Mom, was ist hier los?«
»Och, nichts«, erwidert sie und weicht meinem Blick aus. Es ist keinesfalls nichts los.
»Vorhin waren nur ein paar Leute hier, um zu kondolieren, nichts weiter«, sagt sie abschätzig. »Im Kühlschrank ist noch mehr.« Sie reicht mir einen Teller. »Iss erst mal den Kartoffelsalat. Der wird am ehesten schlecht.«
»Oh, nein!« Ich schüttle entsetzt den Kopf. »Du willst sagen, das alles hast du für Howie aufgefahren?« Ich richte mich direkt an meine Mutter, damit Quentin das nicht hört, aber er ist so mit seinem Hühnchen beschäftigt, dass er mich wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt hat.
»Nein«, entgegnet meine Mutter. »Howie ist tot, und damit kann das ja wohl nicht für ihn sein.« Sie klingt so entschieden, als glaubte sie wirklich, ihr Schwiegersohn hätte gerade erst den Kampf gegen den Krebs verloren. »Das ist für dich und Quentin.«
Ich sehe mich in der Küche um, blicke auf die Tupperware-Behälter, deren Besitzer sich mit Kreppband an Rand und Deckel namentlich verewigt haben. Auf der Mikrowelle liegt ein großer Stapel Beileidsschreiben, alle an mich adressiert. Ich bin entsetzt und zugleich ernstlich berührt. »Mom, das ist nicht richtig. Das kann ich nicht annehmen.« Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen. Ich kenne die meisten kaum noch, und dennoch hat jedes Mitglied der Gemeinde mir gegenüber eine großzügige Geste gemacht.
»Natürlich kannst du«, sagt Mom. »Wenn du erst mal von Georgias hausgemachtem Karamell probiert hast, kannst du sowieso nur noch daran denken, wie er dir im Mund schmilzt. Georgia hat netterweise heute Morgen einen großen Block vorbeigebracht und sich auch bereiterklärt, dich eine Weile unter ihre Fittiche zu nehmen. Vielleicht hilfst du ihr ja auf dem Regionalmarkt.«
In meinem Kopf herrscht große Verwirrung, denn weder weiß ich, wer Georgia ist, noch warum sie mich unter ihre Fittiche nehmen sollte. »Wer ist Georgia?«
Als ich höre, dass sie die Frau von Joseph Reid war, steht mir augenblicklich ihr Bild vor Augen. Ich hatte noch niemals jemanden mit so blasser Haut und so schwarzem Haar gesehen – wie eine Figur aus einem englischen Roman des 19. Jahrhunderts.
»Warum um alles in der Welt sollte Georgia mich unter ihre Fittiche nehmen?« Doch ich ahne schon, was meine Mutter im Schilde führt.
»Weil ihr beide junge Witwen seid und sie weiß, was du durchmachst.«
»Woher soll Georgia wissen, was ich durchmache?« Ich bin außer mir. »Ihr Mann ist gestorben, und meiner hat mich gerade verlassen!«
»Nun werd nicht frech. Ich versuche nur zu helfen!«, erwidert meine Mutter trotzig. Sie öffnet sämtliche Tupperdosen und riecht daran. »Georgia verkauft ihr Karamell auf dem Markt, und dieses Jahr will sie zusätzlich Kuchen anbieten. Du brauchst eine Aufgabe, Prissy, sonst liegst du den ganzen Tag lang im Bett und tust dir leid.«
Ich suche verzweifelt nach einer Ausrede, um dem Regionalmarkt zu entgehen – abgesehen von der Tatsache, dass ich keine Witwe bin –, aber so weit kann ich nicht denken. Ich wollte doch bloß ein paar Tage herkommen, um
Weitere Kostenlose Bücher