Die Witwen von Paradise Bay - Roman
gesehen hat, fliegen ein, aber nicht um zu trauern, sondern um die Hinterbliebenen wiederzusehen. Man umarmt sich, lacht und wärmt bis zum Erbrechen die immer gleichen Geschichten auf. Ich habe nie die Begeisterung teilen können, mit der hier viele die Todesanzeigen lesen, auf der Suche nach irgendeiner Beziehung zum Verstorbenen, als gälte es, zu einer exklusiven Festlichkeit zugelassen zu werden.
Ches’ Beerdigung wird aufgrund der ungewöhnlichen und tragischen Umstände seines Todes aus dem Rahmen fallen. Ein Selbstmord bietet reichlich Stoff für Klatsch und Tratsch, besonders in einer kleinen, eng verwobenen Gemeinschaft. Niemand wird lachen oder in Erinnerungen an Ches’ wilde Jugend schwelgen, niemand wird beklagen, wie sehr er sich verändert hat. Alle werden wispern und Fragen stellen.
Ein wenig kann ich mich in Ches hineinfühlen, denn ich weiß, wie es ist, wenn man sterben will. Ich habe auch mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt, allerdings nur flüchtig und gelegentlich, und in letzter Zeit immer seltener. Ich habe mich dann gefragt, ob mich das unangetastete Fläschchen Schlaftabletten, das mir Dr. Ferguson nach Josephs Tod verschrieben hat, töten würde. Wie lange es dauern würde, bis der Tod kommt, und ob ich mir dessen bewusst und es wirklich so schmerzfrei wäre, als würde man einschlafen. Ich weiß nicht, warum ich diesen Gedanken nicht ernsthafter verfolgt habe, denn im Vergleich zu Ches habe ich sehr viel weniger, wofür es sich zu leben lohnt. Ich habe keine Kinder, keine Familie, und auf mich wartet mein toter Ehemann. Aber ich wünsche mir meinen Tod dennoch weniger vorsätzlich. Andere träumen von einem Lottogewinn, ich von Eierstockkrebs oder Ertrinken.
Überall heißt es, was für eine Schande es sei, dass sich ein junger Mann wie Ches umgebracht hat, und natürlich bedaure ich ihn für das, was er durchlitten hat. Doch mein Herz ist bei Lottie und Marianne. Ich kenne den Schmerz des Verlassenseins zu gut, ich trage ihn jeden Tag, ich sprühe mich damit ein, als wäre es mein Lieblingsduft.
Während ich zu Ches’ Beerdigung in die Kirche St. Augustine gehe, frage ich mich, was Joseph zu Ches’ frühzeitigem Ableben gesagt hätte. Er würde wahrscheinlich beim Frühstück, über einem Schälchen Honey Loops, den Kopf schütteln und sagen, wie schrecklich das alles sei. Mehr nicht. Er würde nicht spekulieren, denn Joseph war kein Freund des »Was wäre, wenn«. Was passiert ist, ist passiert, würde er sagen. Könnte ich doch an sein Motto glauben! Die letzten fünf Jahre meines Lebens waren ein einziges »Was wäre, wenn«. Ob Joseph die Tatsachen genauso hinnehmen würde, wenn ich gestorben wäre?
Ich schaue hoch zur prägnanten Turmspitze von St. Augustine und halte den Atem an. St. Augustine ist die einzige Kirche in Paradise Bay, und sie mag noch so schön, pittoresk und alt sein, für mich wird sie immer der Ort sein, an dem ich mich von Joseph verabschiedet habe. Ich bin auf dem Weg zu Ches’ Beerdigung, doch ich kann nur an Josephs Begräbnis denken. Ich bin seinem Sarg durch den Mittelgang mit gesenktem Haupt gefolgt, um den neugierigen Blicken zu entgehen. Ich habe die Reihen der Sitzbänke gezählt, um nicht das Undenkbare denken zu müssen. Ich habe Freds Augen auf mir gespürt, sein Flehen um Vergebung, aber ich habe mich geweigert, seinem Blick zu begegnen und die Last von ihm zu nehmen. Ich erinnere mich noch, wie langsam ich hinter den Sargträgern hergeschritten bin, und am deutlichsten erinnere ich mich an die Symbolik dieser Schritte. In diesem Moment wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich von nun an alleine durchs Leben gehen würde, dass ich nie mehr eilen würde, um mit Josephs langbeinigen Schritten mitzuhalten, und dass ich keine Hand mehr halten könnte, um seinen schnellen Gang zu bremsen. In dem Moment hätte ich am liebsten losgeheult, doch das tat ich nicht. Ich habe weiter die Bankreihen gezählt, und als ich aus der Dunkelheit der Kirche hinaus ins Sonnenlicht trat, habe ich immer wieder die Autos auf dem Parkplatz gezählt, um nicht bei jeder Beileidsbekundung, bei jedem Mal zusammenzubrechen, wenn ich hörte, Joseph sei ein guter Mann gewesen und nun an einem besseren Ort – als wäre es besser, in einem Sarg zu liegen, statt draußen auf dem Meer in seinem Boot zu sitzen.
Ich habe während der gesamten Beerdigung nicht ein Mal geweint, das habe ich erst getan, nachdem wir Joseph der Erde übergeben und alle mein Haus verlassen hatten.
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