Die Wölfe vom Rock Creek - Alaska Wilderness ; 2
wirkte schläfrig, wahrscheinlich wegen der starken Schmerzmittel, die man ihm gegeben hatte, und seine Stimme klang schwach und heiser. »Ich hab … hab schon gehört, Miss … Ranger. Haben Sie … Sie den Killer gefasst?«
»Sagen Sie Julie zu mir.« Julie holte sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett des alten Mannes. Das zweite Bett war leer. »Nein … er ist uns leider entkommen. Wir müssen ihn auf frischer Tat ertappen, sonst reichen die Beweise nicht aus.« Sie rückte näher an ihn heran. »Wie geht es Ihnen, Harry?«
»Sie haben mich … mich mit Schmerzmitteln vollgepumpt.« Er blickte auf den Tropf, an dem er hing. »War ’ne ziemliche Prozedur. Ich … ich hab Erfrierungen zweiten Grades.« Er schloss die Augen und kämpfte vergeblich gegen die Tränen an. »Sie hätten mich im … im Schnee liegen lassen sollen, Julie!«
»Bitte, sagen Sie doch so etwas nicht, Harry.«
»Ohne meine Sue-Ellen ist doch alles … alles sinnlos. Wissen Sie, wie lange wir … wir verheiratet waren? Über fünfzig Jahre! Ich hab … hab sie damals auf einer County Fair in Ohio kennengelernt … sie verkaufte Zuckerwatte, und ich … ich sagte ihr, sie wäre … wäre das süßeste Ding im ganzen Universum.« Er versuchte ein Lächeln, das aber nur teilweise gelang. »Ziemlich blöde Anmache, nicht wahr? Aber … aber sie hat was genützt. Ein halbes … halbes Jahr später waren wir verheiratet.« Die Erinnerung gab ihm neue Kraft, und in seine Augen trat ein schwacher Glanz, der aber sofort wieder verblasste. »Leider … leider konnte sie keine … keine Kinder bekommen. Ich fing als Tankwart bei einer Texaco-Tankstelle an … « Er zögerte. »Aber ich … ich langweile Sie sicher … «
»Im Gegenteil, Harry. Erzählen Sie weiter.«
»Als der Krieg in Vietnam begann, meldete ich mich freiwillig.«
Über die alten Zeiten zu reden, tat ihm gut. Seine Stimme wurde fester und sicherer und er stotterte kaum noch. »An die Front kam ich erst 1968 . Das war das schlimmste Jahr des Krieges. Schon mal von der Tet-Offensive gehört? Damals brannte es an der gesamten Front und ich war mittendrin. Dass ich nicht getötet oder verwundet wurde, habe ich Sue-Ellen zu verdanken. Sie zündete jeden Tag eine Kerze für mich an und betete für mich und meine Kameraden. Und ich kam tatsächlich heil zurück. Danach wurde ich nach Alaska versetzt und Sue-Ellen und ich zogen nach Anchorage. Dort lebten wir, bis … «, seine Augen füllten sich mit Tränen, » … bis Sue-Ellen diesen verdammten Krebs bekam und … « Er schniefte und griff dankbar nach dem Kleenex, das Julie ihm reichte. »Drei Monate ist das nun schon her und mir wird immer klarer, dass ich ohne sie nicht leben kann. Ich muss ständig an sie denken, an unsere gemeinsamen Urlaube im Nationalpark … sie liebte Denali. So muss die Welt am Schöpfungstag ausgesehen haben, sagte sie immer. Zwei Monate wollten wir im kommenden Sommer im Park verbringen und jetzt … « Er schniefte. »Sie hätten mich im Schnee liegen lassen sollen, Julie!«
Bevor Julie protestieren konnte, betrat eine Krankenschwester den Raum und lächelte, als sie die junge Frau an Harrys Bett sah. »Das ist schön, dass Sie Harry besuchen kommen. Er musste sich gestern eine Menge von unseren Ärzten gefallen lassen und braucht dringend etwas Zuspruch. Ein freundliches Wort ist oft mehr wert als die beste Pille.« Sie blickte auf die elektronische Anzeige mit Blutdruck und Puls und nickte zufrieden. »Das sieht sehr gut aus, Harry. Sind Sie mit ihm verwandt, Miss?«
»Ranger Wilson«, stellte sie sich vor. »Ich habe ihn gefunden.«
»Dann haben Sie sein Leben gerettet.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan«, wehrte Julie verlegen ab.
Die Schwester untersuchte die leichten Verbände an seinen Händen. »Die wechseln wir morgen früh nach der Visite, Harry. Der Doktor muss überprüfen, ob sich die Blasen zurückgebildet haben.« Sie stellte ihm ein Döschen mit zwei Tabletten auf den Nachttisch. »Falls Sie nicht schlafen können.«
»Haben Sie denn keine Verwandten oder Freunde mehr, die Sie besuchen könnten?«, fragte Julie, nachdem die Schwester das Zimmer verlassen hatte.
Harry wischte sich die Tränen aus den Augen. »Eine Stiefschwester in Ohio, aber die hat sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gemeldet. Nicht mal zur Beerdigung meiner Sue-Ellen ist sie gekommen. Sie ist mit einem arroganten Rechtsanwalt verheiratet, der uns wahrscheinlich für Aussätzige hielt, weil wir so
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