Die Woelfin
er nun Gewißheit hatte, daß der Junge überhaupt auf ihn hörte.
»Ich will dich nicht belügen, mein Junge. Deshalb muß ich dir sagen, daß ich nicht weiß, ob die Toten uns hören können oder ob sie uns verstehen, wenn wir mit ihnen reden. Ich weiß nur, daß viele Menschen hier auf dem Friedhof an den Gräbern ihrer verstorbenen Angehörigen stehen und zu den Toten sprechen. Das habe ich schon oft genug beobachtet. Vielleicht tun sie das, um den Toten endlich einmal all jenes an den Kopf zu werfen, was sie ihnen zu Lebzeiten nicht zu sagen getraut haben, denn vor Widerworten werden sie sich auf diese Weise kaum fürchten müssen.«
Ein schlitzohriges Grinsen huschte über Justus bärtiges Gesicht. Als er allerdings sah, daß Thomas seine Ausführungen in keinster Weise erheiternd fand, bemühte er sich sofort wieder um einen an-gemesseneren Ausdruck. Schnell wurde er wieder ernst.
»Viel trauriger ist es da schon, all die unglücklichen Menschen an den Gräbern ihrer Lieben stehen zu sehen und sie die Dinge stammeln zu hören, die sie ihnen eigentlich besser zu Lebzeiten gesagt hätten, aber dies aus irgendwelchen Gründen versäumt haben. Das kann ich dir sagen, mein Junge, das tut weh, hier drin«, und Justus bedeckte mit einer schaufelblattgroßen Hand die Herzgegend seiner blauen Arbeitsjacke, die mit zunehmender Dämmerung immer dunkler zu werden schien, »selbst wenn man nur ein Unbeteiligter ist und nur ein paar Worte dieser Verzweifelten aufschnappt! Soviel Schmerz, den diese Menschen da mit sich herumtragen! Dabei müssen sie ihn doch herauslassen, diesen Schmerz, aus ihren Seelen! Sonst frißt er sie auf, mit Haut und Haaren wie ein wildes Tier!«
Urplötzlich schrie Thomas auf: »Ja, aber wie, wenn sie ihnen doch nicht zuhören! Wenn sie ihnen gar nicht zuhören können!«
Gleich einem Sommergewitter nach der Schwüle bahnte sich die verzehrende Pein des Jungen in Sturzbächen von Tränen ihren Weg an die Oberfläche und benetzte die Brust des zufrieden lächelnden alten Mannes, der Thomas' schmächtigen Oberkörper mit einem kräftigen Arm umfaßt hatte und den bebenden Kopf des Jungen an seiner Schulter barg, während er beruhigend auf ihn einredete.
»So ist's recht, mein Junge! Laß es raus! Laß alles raus! Ich höre dir zu, wenn du dir etwas von der Seele reden willst. Ich laß dich nicht allein und ich werde dir helfen, wenn es irgendwie in meiner Macht steht!«
Fortsetzung im nächsten Heft © 1966 Michael Dependahl, Bachstraße 4, 49.143 Bissendorf
ENDE
Weitere Kostenlose Bücher