Die Wohlgesinnten
hübsche Stange Geld gekostet. Anfangs war ich Feuer und Flamme. Ich nahm Stunden; doch als die Fortschritte ausblieben, war ich rasch ernüchtert und gab auf. Vom Tonleiterüben hatte ich nicht geträumt, ich war wie alle Kinder. Meine Mutter wagte nicht, mir meine Faulheit und mangelnde Ausdauer vorzuwerfen, aber mir war schon klar, dass sie der Gedanke an das viele vergeudete Geld ärgern musste. Auf dem Klavier sammelte sich der Staub; meineSchwester brachte nicht mehr Interesse auf als ich; und ich verschwendete keinen Gedanken mehr daran, ich bemerkte kaum, dass meine Mutter es, sicherlich mit Verlust, wieder verkaufte. Ich habe meine Mutter nie wirklich geliebt, ich habe sie sogar gehasst, aber in diesem Fall tat sie mir doch leid. Allerdings war sie nicht ganz schuldlos daran. Wenn sie konsequent gewesen wäre, Strenge gezeigt hätte, als es notwendig war, hätte es mit dem Klavierspiel vielleicht geklappt, und das hätte mich glücklich gemacht, mir eine sichere Zuflucht geboten. Nur für mich zu spielen, daheim, wäre mir mehr als genug gewesen. Gewiss, ich höre häufig Musik und finde lebhaftes Vergnügen daran, doch das ist nicht das Gleiche, lediglich Ersatz. Genau wie meine Liebesabenteuer mit Männern: In Wirklichkeit, ich bekenne es, ohne rot zu werden, wäre ich lieber eine Frau gewesen. Nicht unbedingt eine Frau, die in dieser Welt lebt und handelt, eine Ehefrau, eine Mutter; nein, eine nackte Frau, die auf dem Rücken liegt, die Beine spreizt, vom Gewicht eines Mannes erdrückt wird, sich an ihn klammert, von ihm durchbohrt wird, in ihm zerfließt und sich in den grenzenlosen Ozean verwandelt, in dem er ertrinkt, eine Lust ohne Ende und ohne Anfang. Es sollte nicht sein. Stattdessen wurde ich Jurist, Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, SS-Offizier, schließlich Direktor einer Spitzenfabrik. Das ist traurig, lässt sich aber nicht ändern.
Alles, was ich hier niedergeschrieben habe, ist wahr, wahr ist aber auch, dass ich eine Frau geliebt habe. Eine einzige, die aber mehr als alles in der Welt. Nun war aber sie ausgerechnet diejenige, die mir verboten war. Es ist durchaus denkbar, dass ich, als ich träumte, eine Frau zu sein, als ich mir den Körper einer Frau erträumte, immer noch nach ihr suchte, mich ihr nähern wollte, sein wollte wie sie, sie sein wollte. Das ist sehr gut möglich, ändert aber nichts. Von den Typen, mit denen ich geschlafen habe, habe ich nicht einen einzigen geliebt, ich habe mich ihrer bedient, ihren Körperbenutzt, das ist alles. Die Liebe dieser Frau hätte mir für ein ganzes Leben genügt. Macht euch nicht lustig: Diese Liebe war vermutlich das einzig Gute, was ich in meinem Leben zustande gebracht habe. All das, so denkt ihr gewiss, klingt ein bisschen merkwürdig für einen Offizier der Schutzstaffel . Doch warum hätte nicht auch ein SS-Obersturmbannführer ein Innenleben haben sollen, Begierden und Leidenschaften wie alle anderen? Von meiner Sorte, die ihr immer noch für kriminell haltet, gab es Hunderttausende; unter ihnen natürlich, wie überall, ganz banale Menschen, aber auch ungewöhnliche: Künstler, hochgebildete Männer, Neurotiker, Homosexuelle, Männer, die ihre Mutter liebten, was weiß ich. Und warum auch nicht? Keiner war typischer als irgendein Mensch in irgendeinem Beruf. Es gibt Geschäftsleute, die guten Wein und Zigarren lieben, Geschäftsleute, die vom Geld besessen sind, und Geschäftsleute, die sich einen Dildo in den After schieben, wenn sie ins Büro gehen, und unter ihrem edlen Zwirn obszöne Tätowierungen verstecken: Derlei erscheint uns selbstverständlich, warum nicht auch bei Angehörigen der SS oder Wehrmacht? Weit häufiger, als man vermutet, stießen unsere Stabsärzte auf Damenunterwäsche, wenn sie die Uniformen der Verwundeten aufschnitten. Die Behauptung, ich sei nicht typisch gewesen, besagt gar nichts. Ich lebte, ich hatte eine Vergangenheit, eine Vergangenheit, die mich belastete und teuer zu stehen kam, aber das kann passieren, und ich lebte sie auf meine Weise. Dann ist der Krieg gekommen, ich diente, ich wurde in schreckliche Ereignisse, in Gräueltaten verstrickt. Ich hatte mich nicht verändert, ich war noch immer derselbe Mensch, meine Probleme waren nicht gelöst, obwohl der Krieg mich vor neue stellte, obwohl diese Schrecken nicht spurlos an mir vorübergingen. Es gibt Männer, für die der Krieg oder sogar das Morden eine Lösung ist, doch ich gehöre nicht zu ihnen, für mich, wie für die meisten anderen
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