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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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charakterlichen Veranlagung. Und die Opfer sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht deshalb gefoltert oder getötet worden, weil sie gut waren, ebenso wenig wie ihre Peiniger sie aus Bosheit gequält haben. Das zu glauben wäre reichlich naiv; man braucht sich nur in einer beliebigen Bürokratie umzusehen, und sei es die des Roten Kreuzes, um sich davon zu überzeugen. Stalin hat meine These übrigens auf bemerkenswerte Weise unterstrichen, indem er jede Generation von Henkern in Opfer der nachfolgenden Generation verwandelte, ohne dass ihm deshalb die Henker ausgegangen wären. Die Maschinerie des Staates nun ist aus dem gleichen Sand gebacken wie das, was sie Korn für Korn zu Staub zermahlt. Es gibt sie, weil alle damit einverstanden sind, dass es sie gibt, sogar – und häufig bis zum letzten Atemzug – ihre Opfer. Ohne die Höß, Eichmanns, Goglidzes, Wyschinskis, aber auch ohne die Weichensteller,die Betonfabrikanten und die Buchhalter in den Ministerien wäre ein Stalin oder ein Hitler nur einer jener von Hass und ohnmächtigen Gewaltfantasien aufgeblähten Säcke gewesen. Die Feststellung, dass die meisten leitenden Angestellten der Vernichtungsindustrie weder sadistisch noch verrückt waren, ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Die Sadisten, die Psychopathen hat es natürlich, wie in jedem Krieg, gegeben, und sie haben unbeschreibliche Gräueltaten begangen, das ist wahr. Wahr ist auch, dass die SS größere Anstrengungen hätte unternehmen können, diesen Leuten auf die Finger zu sehen, obwohl sie es in höherem Maße tat, als gemeinhin angenommen wird; und das ist gar nicht so selbstverständlich: Fragt die französischen Generale, sie hatten ihre liebe Not mit ihren Alkoholikern, ihren Vergewaltigern und Offiziersmördern in Algerien. Doch das ist nicht das Problem. Verrückte gibt es immer und überall. In unseren friedlichen Vororten wimmelt es von Pädophilen und Psychopathen, in unseren Nachtasylen von durchgeknallten Megalomanen; einige werden zum echten Problem, sie bringen zwei, drei, zehn oder gar fünfzig Menschen um – dann zertritt sie derselbe Staat, der sich ihrer im Krieg bedenkenlos bedient, wie blutsaugende Insekten. Doch diese Kranken zählen nicht. Die wirkliche Gefahr – vor allem in unsicheren Zeiten – sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr. Wenn ihr davon nicht überzeugt seid, braucht ihr nicht weiterzulesen. Ihr werdet nichts verstehen und euch nur ärgern, nutzlos für euch – wie für mich.
    Wie die meisten Menschen habe ich nie zum Mörder werden wollen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich, wie gesagt, der Literatur zugewandt. Geschrieben, wenn ich das Talent gehabt hätte, falls nicht, sie vielleicht gelehrt, jedenfalls mit diesen schönen und friedlichen Schöpfungen gelebt, den besten, die menschliches Streben je hervorgebracht hat.Wer würde sich denn aus freien Stücken – die Irren beiseitegelassen – für den Mord entscheiden? Und dann hätte ich gerne Klavier gespielt. Eines Tages, im Konzert, beugte sich eine Dame mittleren Alters zu mir herüber: »Sie sind bestimmt Pianist, nicht wahr?« – »Leider nicht, gnädige Frau«, musste ich bedauernd antworten. Der Gedanke, dass ich nicht Klavier spiele und nie spielen werde, schnürt mir noch heute die Brust zusammen, manchmal mehr als das Grauen, mehr als der schwarze Fluss meiner Vergangenheit, der mich durch die Jahre trägt. Ich werde diesen Gedanken einfach nicht los. Als ich klein war, hat meine Mutter mir ein Klavier gekauft. Es war zu meinem neunten Geburtstag, glaube ich. Oder zum achten. Auf jeden Fall bevor wir nach Frankreich gingen, um bei diesem Moreau zu leben. Monatelang hatte ich sie angefleht. Ich träumte von nichts anderem als davon, Pianist zu werden, ein berühmter Konzertpianist: unter meinen Fingern Kathedralen, schwerelos wie Seifenblasen. Aber wir hatten kein Geld. Mein Vater war seit einiger Zeit fort, seine Konten gesperrt (das begriff ich erst später), und meine Mutter musste sich irgendwie durchschlagen. Doch in diesem Fall hatte sie das Geld aufgetrieben, ich weiß nicht wie, vielleicht gespart oder geliehen, vielleicht hatte sie sich sogar prostituiert, ich weiß es nicht, es ist ohne Belang. Sicherlich hatte sie ehrgeizige Pläne mit mir, wollte meine Talente fördern. So wurde uns an meinem Geburtstag dieses Klavier gebracht, ein schönes Stück. Selbst gebraucht hatte es bestimmt eine

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