Die Wohlgesinnten
gefolgt von einer Schar Schüler. Ich führte sie zum Schlafsaal, in den alle gleichzeitig hineinwollten; doch sobald sie die Situation erfasst hatten, versperrten zwei Lehrer die Tür und drängten die Schüler in den Flur zurück, aber ich war bereits eingetreten und sah alles. Zwei oder drei Lehrer hoben Jean R. an, während ein anderer verzweifelt versuchte, das starke Band mit einem Taschenmesser oder Schlüssel zu durchtrennen. Schließlich fiel Jean R. wie ein gefällter Baum und riss die Lehrer mit sich zu Boden. Albert hockte zusammengekrümmt in einer Ecke und schluchzte, die Hände vors Gesicht geschlagen. Pater Labourie, mein Griechischlehrer, versuchte mit aller Kraft, Jean R. den Mund zu öffnen, mit beiden Händenmühte er sich ab, die Zähne des Jungen auseinanderzubringen, ohne Erfolg. Ich erinnere mich noch genau an das tiefe, leuchtende Blau in Jean R.s Gesicht, das Violett seiner Lippen, den weißen Schaum darauf. Dann schickte man mich hinaus. Diese Nacht verbrachte ich auf der Krankenstube, ich sollte von den anderen Jungen isoliert sein, nehme ich an; ich weiß nicht, wohin sie Albert gebracht hatten. Etwas später schickte man mir Pater Labourie, einen Mann, der sanftmütig und geduldig war, seltene Eigenschaften in diesem Institut. Er war nicht wie die anderen Priester, ich unterhielt mich gern mit ihm. Am nächsten Morgen wurden alle Schüler in der Kapelle versammelt, wo sie eine lange Predigt über die Verwerflichkeit des Selbstmords über sich ergehen lassen mussten. Jean R., so wurde uns mitgeteilt, habe überlebt; nun müsse man für das Seelenheil des armen Sünders beten. Wir sahen ihn nie wieder. Da alle Schüler ziemlich durcheinander waren, beschlossen die guten Patres, eine lange Wanderung im Wald zu veranstalten. »Das ist doch idiotisch«, sagte ich zu Albert, als ich ihm im Hof begegnete. Er erschien mir verschlossen, angespannt. Pater Labourie trat auf mich zu und sagte freundlich: »Komm, komm mit uns. Selbst wenn es dir egal ist, den anderen wird es guttun.« Ich zuckte die Achseln und schloss mich der Gruppe an. Sie ließen uns mehrere Stunden lang wandern; am Abend waren wir wirklich alle ruhig. Man ließ mich wieder in meinen Schlafsaal zurückkehren, wo ich von den anderen Jungen bestürmt wurde. Während der Wanderung hatte Albert mir erzählt, Jean R. sei auf sein Bett geklettert und habe, nachdem er sich die Schlinge um den Hals gelegt habe, gerufen: »He, Albert, schau her!«, dann habe er sich hinuntergestürzt. Über dem Trottoir von Charkow pendelten die Gehängten langsam hin und her. Darunter waren, wie ich wusste, Juden, Russen, Zigeuner. Beim Anblick dieser trüb und verschnürt herabhängenden Toten musste ich an träumende Schmetterlingspuppendenken, die geduldig auf ihre Metamorphose warteten. Aber stets blieb da etwas, was sich mir entzog. Schließlich begann ich zu ahnen, dass ich – egal, wie viele Tote oder wie viele Menschen im Augenblick ihres Todes ich auch sehen mochte – niemals den Tod an sich, diesen besonderen Augenblick, erfassen würde. Es ist immer nur eines von beidem: Entweder ist man tot, dann gibt es beim besten Willen nichts mehr zu verstehen, oder man ist es noch nicht, und dann bleibt er, selbst wenn man den Gewehrlauf im Genick oder die Schlinge um den Hals spürt, unbegreiflich, eine reine Abstraktion, diese absurde Idee, dass ich, das einzige lebende Geschöpf auf dieser Welt, verschwinden könnte. Sterbend sind wir vielleicht schon tot, aber wir sterben nie, dieser Augenblick tritt nie ein, oder vielmehr hört er nie auf einzutreten, da, jetzt tritt er ein, er tritt immer noch ein, und dann ist er schon vorbei, ohne je eingetreten zu sein. So räsonierte ich damals in Charkow vor mich hin, sicherlich mehr schlecht als recht, aber es ging mir auch nicht sehr gut.
Es war Ende November; auf den riesigen runden Platz, der mittlerweile in Adolf-Hitler-Platz umbenannt war, fielen die Schneeflocken lautlos aus dem Mittagshimmel, grau und bleich, wie Lichtpartikel. Von Lenins ausgestreckter Hand hing an einem langen Seil eine Frau herab, darunter spielten Kinder und hoben den Kopf, um ihr unter den Rock zu schauen. Die Zahl der Gehängten wuchs unaufhaltsam, der Ortskommandant hatte angeordnet, sie hängen zu lassen, um ein Exempel zu statuieren . Die russischen Passanten drückten sich rasch, mit gesenktem Kopf, an ihnen vorbei; die deutschen Soldaten und die Kinder musterten sie neugierig, und die Soldaten fotografierten sie oft. Seit
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