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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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so zogen sich die Diskussionen in die Länge. Blobel tobte und ließ seine Wut an den Offizieren des Kommandos aus. Dr. Woytinek vertiefte sich in die Akten und setzte mir den ganzen Tag lang mit Fragen zu. Bei meinem Anblick hatte Dr. Sperath bemerkt: »Sie sehen nicht sehr glücklich aus.« – »Das hat nichts zu sagen. Ich bin einfach etwas erschöpft.« – »Sie sollten sich etwas Ruhe gönnen.« Ich lachte freudlos: »Ja, nach dem Krieg ganz bestimmt.« Doch ich war auch von den Schlammspritzern auf meiner Hose abgelenkt, die Hanika, der ein wenig nachlässig zu werden schien, schlecht gereinigt hatte.
    Blobel hatte den Saurer-Lkw nach Charkow mitgebracht und wollte ihn bei der geplanten Aktion einsetzen. In Poltawa hatte er ihn endlich einweihen können. Häfner, der dabei gewesen war – die Teilkommandos hatten sich in Poltawa vereinigt, um gemeinsam nach Charkow zu marschieren –, schilderte mir die Szene eines Abends im Kasino: »In Wahrheitist das überhaupt keine Verbesserung. Der Standartenführer hat Frauen und Kinder in den Wagen laden lassen und dann den Motor angeworfen. Als die Juden die Situation begriffen, haben sie gegen die Wände getrommelt und geschrien: ›Bitte, liebe Deutsche! Bitte, lasst uns raus!‹ Ich bin mit dem Standartenführer im Wagen sitzen geblieben; er trank Schnaps. Ich kann Ihnen sagen, hinterher, bei der Entladung, fühlte er sich gar nicht mehr so wohl. Die Leichen waren vollgeschissen und vollgekotzt, die Männer angeekelt. Findeisen, der den Laster fuhr, hatte ebenfalls Gas abbekommen und kotzte wild durch die Gegend. Es war scheußlich. Wenn das alles ist, was ihnen einfällt, um uns das Leben zu erleichtern, können sie’s auch lassen. Typisch für diese Schreibstubenhengste.« – »Aber der Standartenführer will ihn trotzdem benutzen?« – »Oh ja! Aber ich kann Ihnen versichern, ohne mich.«
    Schließlich fanden auch die Verhandlungen mit dem AOK ihren Abschluss. Blobel hatte, von Niemeyer als Ic unterstützt, geltend gemacht, dass die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sowie anderer unerwünschter und politisch verdächtiger Elemente, einschließlich der Ortsfremden, zur Erleichterung der immer drückenderen Versorgungsschwierigkeiten beitragen würde. In Zusammenarbeit mit dem Wohnungsamt der Stadt erklärte sich die Wehrmacht bereit, dem Sonderkommando ein Gelände für die Evakuierung zur Verfügung zu stellen – das Traktorenwerk ChTS, mit Baracken für die Arbeiter. Es lag außerhalb der Stadt, zwölf Kilometer vom Zentrum entfernt, jenseits des Flusses an der alten Straße nach Moskau. Am 14. September wurden Plakate angeschlagen, auf denen den Juden befohlen wurde, sich binnen zweier Tage dort einzufinden. Wie in Kiew begaben sich die Juden allein, ohne Bewachung, an den Versammlungsort; und zunächst wurden sie tatsächlich in den Baracken untergebracht. Am Tag der Evakuierung schneite es. Es war sehr kalt, dieKinder weinten. Ich nahm ein Fahrzeug, um mich zum ChTS zu begeben. Das Gelände war nicht abgesperrt, und es herrschte ein äußerst lebhaftes Kommen und Gehen. Da es in den Baracken weder Wasser noch Lebensmittel oder Heizung gab, verließen die Menschen das Gelände wieder, um sich das Notwendigste zu beschaffen, und niemand machte Anstalten, sie daran zu hindern; die Informanten benannten nur die Insassen, die schädliche Gerüchte verbreiteten und die anderen beunruhigten; man nahm sie unauffällig fest und liquidierte sie im Keller der Dienststelle des Sonderkommandos. Im Lager herrschte ein Riesenchaos, die Baracken lösten sich in ihre Bestandteile auf, die Kinder heulten, die ersten Alten starben bereits, und da ihre Angehörigen sie nicht begraben konnten, legten sie sie nach draußen, wo der Frost sie steif fror. Schließlich sperrte man das Lager ab und zog deutsche Wachen auf. Doch der Zustrom riss nicht ab: Juden, die sich ihren Familien anschließen wollten, verheiratete Russen und Ukrainer, die ihren Ehemännern, Frauen oder Kindern etwas zu essen brachten; die ließen wir noch hinein und hinaus, Blobel wollte jede Panik vermeiden und das Lager nach und nach, ganz unauffällig, ausdünnen. Die Wehrmacht hatte eingewandt, eine einzige umfassende Aktion wie in Kiew würde zu viel Staub aufwirbeln, und Blobel hatte das Argument akzeptiert. Heiligabend lud die Ortskommandantur die Offiziere des Sonderkommandos zu einem Empfang in einem großen, weihnachtlich geschmückten Kongresssaal der Kommunistischen Partei der Ukraine ein;

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