Die Wohlgesinnten
einigen Tagen übergab ich mich nicht mehr, ich hoffte, ich sei auf dem Wege der Besserung; doch es war nur eine Atempause; als es mich wieder ereilte, erbrach ich meine Wurst, meinen Kohl und mein Bier, eine Stunde nach der Mahlzeit, auf der Straße, halb verborgenin einem Gang. Ein Stück weiter, an einer Ecke des Gartens der Gewerkschaften, war ein Galgen errichtet worden; an diesem Tag führte man zwei sehr junge Männer und eine Frau dorthin, die Hände auf dem Rücken gebunden, von einer Menge umgeben, die größtenteils aus deutschen Soldaten und Offizieren bestand. Die Frau trug um den Hals ein großes Schild, auf dem zu lesen stand, dass sie alle zur Vergeltung eines Mordversuchs an einem deutschen Offizier bestraft würden. Dann wurde mit dem Hängen begonnen. Einer der jungen Männer sah verdutzt aus, als sei er erstaunt, sich in dieser Situation zu befinden, der andere war einfach traurig; die Frau machte eine entsetzliche Grimasse, als ihr der Halt unter den Füßen fortgezogen wurde, aber das war alles. Gott weiß, ob sie wirklich an dem Attentat beteiligt gewesen waren; es wurde praktisch jeder gehängt, Juden, aber auch russische Soldaten, Leute ohne Papiere, Bauern, die sich auf der Suche nach Nahrung herumtrieben. Es ging nicht darum, die Schuldigen zu bestrafen, sondern durch Terror weitere Attentate zu verhindern. In Charkow selbst schien das zu klappen; seit die Leute gehängt wurden, gab es keine Explosionen mehr. Doch außerhalb der Stadt verschlechterte sich die Situation. Oberst von Hornbogen, der Abwehrchef der Kommandantur, den ich regelmäßig aufsuchte, hatte an der Wand eine große Karte von Charkow und Umgebung hängen, sie steckte voller roter Nadeln, jede stand für einen Partisanenangriff oder ein Attentat. »Das wird wirklich zu einem Problem«, erläuterte er. »Wir können nur im Verband aus der Stadt heraus; einzeln werden die Männer wie Hasen abgeschossen. Wir machen alle Dörfer, in denen Partisanen gefunden werden, dem Erdboden gleich, aber das bringt uns nicht sonderlich weiter. Die Versorgung wird schwierig, selbst die der Truppe; und wir dürfen gar nicht daran denken, wie in diesem Winter die Bevölkerung ernährt werden soll.« Die Stadt zählte etwa sechshunderttausend Einwohner;es gab keine öffentlichen Vorräte, und man sprach schon von älteren Menschen, die an Hunger starben. »Ich würde gern etwas über mögliche Disziplinprobleme hören, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, bat ich den Oberst, mit dem ich seit einiger Zeit auf freundschaftlichem Fuße stand. »Ja, wir haben Schwierigkeiten. Vor allem was die Plünderungen angeht. Einige Soldaten haben die Wohnung des russischen Bürgermeisters leer geräumt, während er sich bei uns aufhielt. Viele Soldaten nehmen den Einheimischen Pelzmäntel und -mützen weg. Es gibt auch Fälle von Vergewaltigung. Eine russische Frau ist in einem Keller eingesperrt und dann nacheinander von sechs Soldaten vergewaltigt worden.« – »Worauf führen Sie das zurück?« – »Liegt wohl an der Moral, könnte ich mir vorstellen. Die Männer sind erschöpft, verdreckt, verlaust, sie bekommen noch nicht einmal sauberes Unterzeug, und dann steht der Winter bevor, sie spüren, dass es noch schlimmer wird.« Mit einem leisen Lächeln beugte er sich vor: »Unter uns, in Poltawa haben wir auf dem Gebäude des AOK sogar Inschriften gefunden wie Wir wollen heim nach Deutschland oder Wir sind schmutzig, wir haben Läuse, und wir wollen heim ins Reich. Der Generalfeldmarschall schäumte vor Wut, er hat es als persönliche Beleidigung aufgefasst. Natürlich sieht er ein, dass es Spannungen und Entbehrungen gibt, aber er findet, dass die Offiziere mehr für die politische Erziehung der Männer tun könnten. Das größte Problem aber ist die Verpflegungssituation.«
Draußen bedeckte eine dünne Schneedecke den Platz, puderte Schultern und Haare der Gehängten. Neben mir stürmte ein junger Russe in die Ortskommandantur, wobei er die Schwingtür im Vorbeigehen mit dem Fuß geschickt daran hinderte, laut zuzuschlagen. Ich atmete tief durch; ein Wassertropfen fiel mir von der Nase und hinterließ auf meinen Lippen eine kalte Spur. Das Gespräch mit Hornbogen hatte mich ziemlich pessimistisch gestimmt. Trotzdem gingdas Leben weiter. Geschäfte, von Volksdeutschen geführt, hatten wieder geöffnet, desgleichen einige armenische Restaurants und sogar zwei Nachtklubs. Die Wehrmacht hatte das ukrainische Schewtschenko-Theater wieder in Betrieb genommen,
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