Die Wohlgesinnten
außerdem hatten wir keine Liste, keine Kartei vom NKWD finden können: Bevor sich dessen Leute absetzten, hatten sie ihre Archive gründlich geleert, nichts war zurückgeblieben, was uns unsere Arbeit erleichtert hätte. Im Hotel zu arbeiten wurde ziemlich beschwerlich: Während ich versuchte, einen Bericht zu tippen, oder mich mit einem einheimischen Kollaborateur unterhielt, drangen aus dem Nachbarzimmer die Schreie eines Mannes, der verhört wurde, was mich belastete. Eines Tages gab es Rotwein zum Abendessen: Kaum hatte ich die Mahlzeit beendet, kam sie wieder hoch. So heftig hatte ich das noch nie erlebt, und es begann mich zu beunruhigen: Vor dem Krieg hatte ich mich nie übergeben, eigentlich kannte ich das seit meiner Kindheit nicht mehr, und ich fragte mich, womit es wohl zusammenhinge. Hanika, der mich durch die Badezimmertür hatte würgen hören, äußerte die Vermutung, dass eine der Speisen schlecht gewesen sei oder dass ich eine Darmgrippe hätte: Ich schüttelte den Kopf, daran lag es nicht, ich war mir sicher, hatte es doch genau wie die Übelkeitsanfälle mit einem Husten begonnen, mit Magendrücken oder dem Gefühl, dass sich dort ein Hindernis zusammenballe, nur dass es diesmal heftiger war und alles mit einem Mal herausgeschossen kam, das kaum verdaute, mit dem Wein vermischte Essen, ein roter Brei, der mir Angst machte.
Schließlich erhielt Kuno Callsen von der Ortskommandantur die Genehmigung, das Sonderkommando in den Räumen des NKWD in der Sownarkomowskaja einzurichten, der Straße des Rats der Volkskommissare. Dieses große Gebäude in L-Form stammte aus den Anfängen des Jahrhunderts, der Haupteingang befand sich in einer kleinen Querstraße, die von winterlich kahlen Bäumen gesäumt wurde; in der Eckeinformierte eine Gedenktafel mit russischer Inschrift darüber, dass der berühmte Dsershinski im Mai und Juni 1920 während des Bürgerkriegs hier residiert habe. Die Offiziere hatten ihre Unterkunft noch immer im Hotel; Hanika hatte einen Ofen für uns aufgetrieben; leider hatte er ihn in dem kleinen Salon aufgestellt, in dem er schlief, und wenn ich die Tür offen ließ, raubte mir sein grässliches Zähneknirschen den Schlaf. Ich bat ihn, er möge doch beide Zimmer tagsüber heizen, damit ich bei geschlossener Tür schlafen könne; doch im Morgengrauen weckte mich die Kälte, sodass ich schließlich angezogen schlief, mit einer Wollmütze, bis Hanika mir Federbetten besorgte, die ich über mir auftürmte, damit ich nackt schlafen konnte, wie ich es gewohnt war. Ich übergab mich weiterhin jeden Abend oder zumindest jeden zweiten, gleich nach Beendigung der Mahlzeit, einmal sogar bevor ich sie beendet hatte, ich hatte zu meinem Schweinekotelett ein kaltes Bier getrunken, und das kam so schnell wieder hoch, dass die Flüssigkeit noch kühl war, ein scheußliches Gefühl. Es gelang mir stets, mich des Erbrochenen sauber zu entledigen, in eine Toilette oder ein Waschbecken, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen, aber es blieb anstrengend: Die heftige Übelkeit, die dem Erbrechen voranging, ließ mich mit einem Gefühl der Leere zurück, entzog mir für lange Augenblicke alle Energie. Wenigstens kam die Nahrung so rasch hoch, dass sie noch nicht sauer war, die Verdauung hatte kaum eingesetzt, das Erbrochene war fast ohne Geschmack, und ich brauchte mir nur den Mund auszuspülen, um mich besser zu fühlen.
Die Spezialisten der Wehrmacht hatten alle öffentlichen Gebäude sorgfältig nach Sprengkörpern und Minen durchsucht und einige Fallen entschärft; trotzdem flog einige Tage nach dem ersten Schneefall das Haus der Roten Armee in die Luft, wobei der Kommandeur der 60. Infanteriedivision, sein Ia und drei Schreiber ums Leben kamen; man fand ihreLeichen, entsetzlich verstümmelt. Am selben Tag gab es noch vier weitere Explosionen; die Wehrmacht tobte. Oberst Selle, Pionierführer der 6. Armee, befahl, in alle großen Gebäude Juden zu setzen, um weitere Explosionen zu verhindern. Von Reichenau wiederum verlangte Repressalien. Das Vorkommando hatte nichts damit zu tun: Die Wehrmacht wollte sich darum kümmern. Der Ortskommandant ließ an allen Balkonen der Stadt Geiseln aufhängen. Hinter unserem Büro stießen zwei Straßen, die Tschernyschewskaja und die Girschmana, aufeinander und bildeten eine unregelmäßige Fläche, eine Art Platz, der ohne klare Grenzen und erkennbare Ordnung von kleinen Gebäuden umstanden war. Mehrere dieser Wohnhäuser, gänzlich verschieden in Stil, Alter und
Weitere Kostenlose Bücher