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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Farbe, öffneten sich in einem stumpfen Winkel zur Straße hin, ihr elegantes Portal von einem kleinen Balkon wie von einem Hut gekrönt; schon bald hingen von jedem Geländer ein oder mehrere Menschen wie Säcke herab. An einem Herrenhaus aus der Zeit vor dem letzten Krieg, blassgrün und drei Stockwerke hoch, flankierten zwei muskulöse Atlanten die Tür und hielten auf ihren weißen hinter dem Kopf abgewinkelten Armen einen Balkon: Als ich vorbeiging, zuckte noch ein Körper zwischen diesen beiden gleichmütigen Figuren. Jeder Gehängte trug um den Hals ein Schild mit russischer Aufschrift. Zur Dienststelle ging ich gerne zu Fuß, entweder unter den kahlen Linden und Pappeln der langen Karl-Liebknecht-Straße oder indem ich die Abkürzung durch den weitläufigen Park der Gewerkschaften mit seinem Schewtschenko-Denkmal nahm; es waren nur einige Hundert Meter, und tagsüber waren die Straßen sicher. Auch in der Karl-Liebknecht-Straße hängte man Leute. Unter einem Balkon hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Mehrere Feldgendarmen waren durch die Balkontür hinausgetreten und befestigten sorgfältig sechs Seile mit Schlingen an den Enden. Dann kehrten sie ins halbdunkle Zimmer zurück. EinenAugenblick später tauchten sie wieder auf und trugen einen an Händen und Füßen gefesselten Mann, dessen Kopf in einer Kapuze steckte. Ein Feldgendarm legte ihm erst die Schlinge und dann das Schild um den Hals, anschließend nahm er ihm die Kapuze ab. Einen Augenblick lang sah ich die weit aufgerissenen Augen des Mannes, die Augen eines Pferdes, das gerade durchging; dann schloss er sie, wie von Müdigkeit überwältigt. Zwei Feldgendarmen hoben ihn hoch und ließen ihn langsam vom Balkon gleiten. Durch seine gefesselten Glieder ging ein gewaltiges Zucken, dann beruhigten sie sich, ruhig schaukelte er da, mit sauber gebrochenem Genick, während die Feldgendarmen den nächsten hängten. Die Leute verfolgten das Schauspiel bis zum Schluss, auch ich tat es, von einer grausigen Faszination erfüllt. Begierig forschte ich in den Gesichtern der Gehängten und der Verurteilten, bevor man sie über das Geländer hob: Diese Gesichter, diese erschreckten oder schrecklich resignierten Augen sagten mir nichts. Mehreren Toten war die Zunge herausgetreten, es sah grotesk aus, der Speichel floss ihnen aus dem Mund aufs Trottoir, einige Schaulustige lachten. Angst überkam mich wie eine Flutwelle, das Geräusch der aufschlagenden Speicheltropfen zerrte an meinen Nerven. In meiner Jugend hatte ich schon einmal einen Erhängten gesehen. Das war in dem entsetzlichen Internat gewesen, in dem man mich eingesperrt hatte; dort litt ich, aber ich war nicht der Einzige. Eines Tages, nach dem Abendessen, fand irgendein besonderes Gebet statt, ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass, und ich hatte mich, mich auf meine protestantische Herkunft berufend (es war eine katholische Schule), beurlauben lassen; daher durfte ich auf mein Zimmer gehen. Die Schlafsäle waren klassenweise belegt und enthielten jeweils rund fünfzehn Etagenbetten. Auf meinem Weg nach oben kam ich am Nachbarsaal vorbei, wo der erste Jahrgang schlief (ich war im zweiten, muss also fünfzehn gewesen sein); dort warenzwei Jungen, die sich ebenfalls vor der Messe gedrückt hatten: Albert, mit dem ich mich ein wenig angefreundet hatte, und Jean R., ein seltsamer Junge, wenig beliebt, der den anderen durch seine heftigen und unkontrollierten Wutanfälle Angst machte. Einige Minuten plauderte ich mit ihnen, bevor ich in mein Zimmer ging, wo ich mich ins Bett legte, um zu lesen, einen Roman von E. R. Burroughs, eine Lektüre, die natürlich verboten war, wie alles in diesem Gefängnis. Ich hatte gerade ein zweites Kapitel beendet, als ich plötzlich Alberts Stimme vernahm, er schrie wie von Sinnen: »Hilfe! Zu Hilfe! Hierher!« Ich sprang aus dem Bett, mein Herz klopfte wie verrückt, doch dann hielt mich ein Gedanke zurück: Was wäre, wenn Jean R. gerade dabei ist, Albert umzubringen? Albert schrie immer noch. Da zwang ich mich weiterzugehen; in höchster Furcht, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen, näherte ich mich der Tür und stieß sie auf. Jean R. hing an einem Balken, ein rotes Band um den Hals, das Gesicht schon blau; Albert schrie, hielt ihn an den Beinen und versuchte ihn anzuheben. Ich rannte aus dem Zimmer, stürzte, meinerseits brüllend, die Treppe hinunter, über den Schulhof, auf die Kapelle zu. Mehrere Lehrer kamen heraus, zögerten, liefen dann auf mich zu,

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